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12.02.2016

Kommunal- und landespolitische Teilhabe Älterer mit Migrationserfahrung

Sarina Strumpen, Kompetenz Zentrum Interkulturelle Öffnung der Altenhilfe

Schlagwörter:Kommunen, Migration, Ältere

Das Kompetenz Zentrum Interkulturelle Öffnung der Altenhilfe (kurz: kom•zen) setzt sich als zuwendungsfinanziertes Stabsprojekt  der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales für eine interkulturelle Öffnung der Altenhilfe gesamtstädtisch und in den einzelnen Bezirken ein. Durch seine Schnittstellenfunktion vernetzt und vermittelt es zwischen Akteurinnen und Akteuren aus Verwaltung, Politik, Migranten(selbst)organisationen und Anbietern von Altenhilfeleistungen. Das kom•zen wird von der AWO Spree-Wuhle e. V. und dem Caritasverband für das Erzbistum Berlin e. V. getragen.

Interview mit Frau Strumpen (kom•zen, stellvertretende Leitung)

Partizipation ist ein großer Begriff. Was verstehen Sie darunter und warum ist Partizipation von älteren Menschen mit Migrationserfahrung  bei gesundheitlichen Themen wichtig?

Partizipation ist mit Teilhabe und Mitbestimmung schon ganz gut erklärt. Mir ist dabei der Aspekt wichtig, dass jemand nicht nur durch Zuschauen Anteil nimmt, sondern auch wirklich mit entwickeln und mitwirken kann. Ich finde es auch wichtig zu betonen, dass viele ältere Menschen, die nach Deutschland migriert sind, sich bereits an sehr vielen gesellschaftlich relevanten Stellen engagieren und partizipieren: Gerade in ihren Communities, Nachbarschaften und Vereinen sind sie seit Jahren ehrenamtlich engagiert. Oft jedoch wird vom fachöffentlichen Diskurs in Deutschland nicht wahrgenommen, was ältere Menschen mit Migrationserfahrung bereits tun. Hier besteht ein Kommunikationsabbruch. Es besteht die Gefahr, nur das als Partizipation zu bezeichnen, was vom fachöffentlichen Diskurs erfasst wird. Dabei ist es gerade bei gesundheitlichen Themen wichtig, die Erfahrungen und Auffassungen älterer Menschen mit Migrationserfahrung einzubeziehen. Denn sie wissen ja, was ihnen fehlt und was ihnen helfen könnte.

Wie gelingt es dem kom•zen, ältere Menschen mit Migrationserfahrung Beteiligung zu ermöglichen? Wie können Strukturen geschaffen werden, die diese Zielgruppen erreichen und sie motivieren, sich zu beteiligen?  

Wir vom kom•zen bieten den älteren Menschen mit Migrationserfahrung, die sich in seniorenpolitisch zentralen Fragen wie beispielsweise der Gesundheits- und Pflegeversorgung einbringen möchten, die dafür notwendige Unterstützung. Es hat sich in den vergangenen 30 Jahren die Tradition entwickelt, dass im fachöffentlichen Diskurs über diese Gruppe gesprochen wurde, oftmals jedoch nicht mit ihnen. Nimmt man partizipative Ansätze ernst, so müssen ältere Menschen mit Migrationserfahrung u. a. in der kommunalen Seniorenpolitik vertreten sein und sich an der Weiterentwicklung des Sozial- und Gesundheitswesens beteiligen können (siehe Infokasten).

Bemerken ältere Menschen mit Migrationserfahrung, dass sie in seniorenpolitischen Gremien als Gesprächspartnerinnen oder Gesprächspartner auf Augenhöhe erwünscht sind, bringen sie Sorgen, Nöte und Probleme bestimmter Gruppen zur Sprache, die sonst in der Öffentlichkeit gar nicht wahrgenommen werden. Ein wichtiger Schritt ist es, Älteren mit Migrationserfahrung dabei zu helfen, ihre Sorgen und Nöte in politische Ziele umzuwandeln und bei der Verfolgung ihrer Forderungen systematisch zu unterstützen, zum Beispiel um verschriftlichte Anträge in die Bezirksverordnetenversammlung einzubringen.

Für im Sozial- und Gesundheitswesen professionell Handelnde bedeutet das, dass sie Zeit und Herzblut in diese Netzwerk- und Beziehungsarbeit stecken müssen. Es geht tatsächlich sehr viel darum, zu vermitteln, zu erklären und zu moderieren. Darüber hinaus sind beruflich Handelnde aufgefordert, strukturelle Barrieren im seniorenpolitischen und sozialen Engagement für Ältere mit Migrationserfahrung zu benennen und auf eine Beseitigung hinzuwirken. Beispielsweise, indem sie sich für eine ausreichende finanzielle Anerkennung ehrenamtlicher Tätigkeiten einsetzen.

Ein zentrales Anliegen des kom•zen ist es, älteren Menschen mit Migrationserfahrung im kommunalen Rahmen Anregungen und Unterstützung zum Mitgestalten zu geben. Möglichkeiten dazu bestehen unter anderem bei den bezirklichen Seniorenvertretungen, der Landesseniorenvertretung (LSV) sowie dem Landesseniorenbeirat (LSBB). Der Landesseniorenbeirat berät das Abgeordnetenhaus und den Senat von Berlin in seniorenpolitisch relevanten Themen. Dazu unterhält er themenspezifische Arbeitsgruppen, die sich aus gewählten und delegierten Seniorenvertretern aller Berliner Bezirke zusammensetzen. Das kom•zen beteiligt sich an der Arbeitsgruppe Migration des LSBB, in der vor allem Maßnahmen zum Umsetzung der seniorenpolitischen Leitlinie 13 „Ältere Migrantinnen und Migranten“ diskutiert, entwickelt und beobachtet werden. Zu den Zielen der seniorenpolitischen Leitlinien gehört es auch, politisches Engagement, soziale und kulturelle Teilhabe sowie Selbstbestimmung Älterer mit Migrationserfahrung zu fördern. Das kom•zen motiviert ältere Menschen mit Migrationserfahrung für die bezirklichen Seniorenvertretungen zu kandidieren und ist eine wichtige Anlaufstelle für Austausch und Informationsvermittlung geworden.

Welche Schwierigkeiten nehmen Sie bei der Ermöglichung von Partizipation Älterer mit Migrationserfahrung wahr?

Viele Ältere mit und ohne Migrationserfahrung wissen nicht, welche seniorenpolitischen Beteiligungsmöglichkeiten sie gegenwärtig haben. Vielen ist nicht sofort verständlich, weshalb ein seniorenpolitisches Engagement ihrerseits jetzt begrüßt wird. Viele, die bereits seit Jahrzehnten in Deutschland leben, haben in ihrer Biographie erfahren, dass die deutsche Mehrheitsgesellschaft eine (politische, soziale etc.) Partizipation von Eingewanderten nicht wünscht. So haben sie beobachtet, dass ein kommunales Wahlrecht für Personen nicht-deutscher Staatsangehörigkeit ebenso wie die Möglichkeiten der doppelten Staatsbürgerschaft bisher nicht eingeführt wurden. Auch Personen, die jahrelang mit einem Duldungsstatus gelebt haben, sahen für sich kaum Möglichkeiten, sich auf kommunal- und landespolitischer Ebene in die Entwicklung des Sozial- und Gesundheitswesens einzuschalten. Nun, nur einige Jahre später, wird beklagt, dass sich die Gruppe der älteren Menschen mit Migrationserfahrung zu wenig gesellschaftspolitisch beteilige. Dass das aktive und passive Wahlrecht für die bezirklichen Seniorenvertretungen nur an die Bedingungen von Alter (ab 60) und Wohnsitz (Hauptwohnsitz in Berlin) geknüpft sind - und eben nicht an die Staatsangehörigkeit - ist unter Älteren mit und ohne Migrationserfahrung nur wenig bekannt.

Zudem ist die gesetzlich verankerte Institution der Seniorenvertretung, in der ältere Menschen ihre Interessen kommunal-, landes- und bundespolitisch vertreten, etwas Neuartiges. Vielen Älteren mit und ohne Migrationserfahrung ist der Ansatz der partizipatorischen Demokratie oftmals nicht vertraut, sodass sie Möglichkeiten der seniorenpolitischen Beteiligung weder suchen noch sofort für sich zu nutzen wissen. In der Seniorenpolitik bewegen sich natürlich auch Politprofis jedes Alters, die die Spielregeln der politischen Gremienarbeit kennen. Wer sich zuvor nicht in Gremien bewegt hat und mit 60 oder 70 Jahren damit anfängt, ist erst einmal verunsichert und hat dann vielleicht Zweifel, ob das gut eingesetzte Lebenszeit ist.

Wie kann man ältere Menschen mit Migrationshintergrund für gesundheitspolitische Teilhabe sensibilisieren?

Älteren mit Migrationserfahrung - wie auch Einheimischen - fällt es oftmals schwer, die gewachsenen Strukturen im Sozial-und Gesundheitswesen nachzuvollziehen. Unsere Erfahrung ist, dass es dann nicht unbedingt hilfreich ist, Systemlogiken in Deutschland nur über gegenwärtige Gesetzeslagen und -begriffe zu erklären. Vielmehr müssen diese Strukturen über ihren historischen und gesellschaftlichen Kontext verdeutlicht werden, sodass ein Aha-Erlebnis entsteht und ältere Menschen mit Migrationserfahrung das erlangte Wissen für ihr seniorenpolitisches Engagement nutzen können. Das ist zum einen nötig, da viele Ältere aus Ländern ohne ein vergleichbar ausdifferenziertes Sozialversicherungssystem kommen und  sie daher oftmals gar nicht eine entsprechende Angebotsvielfalt über die Sozialversicherungen erwarten. Zum anderen haben viele in ihrem Lebensverlauf nur wenig Bedarf oder Möglichkeiten gesehen, sich mit der Entwicklung der Sozialversicherungen und den Reformen auseinanderzusetzen.

Gibt es weitere Besonderheiten, die bei der Gruppe älterer Menschen mit Migrationshintergrund zu berücksichtigen sind?

Viele Ältere führen ihr Leben in transnationalen Strukturen und verbringen daher auch relativ viel Zeit im Ausland. In der Konsequenz führt das dazu, dass sie in diesen Zeiträumen nicht an Gremiensitzungen in Deutschland teilnehmen können. Oftmals wird dieser transnationale Lebensstil als Ausschlusskriterium nicht nur für eine politische, sondern auch für soziale und kulturelle Partizipation gesehen. Transnationalität ist jedoch Fakt in der Lebenswirklichkeit vieler Älterer. Ihr muss künftig in der Altenhilfe mehr Rechnung getragen werden. In diesem Sinne sind die Erfahrungen und Vergleiche, die transnational aufgestellte Ältere einbringen können, eine wichtige Ressource für die seniorenpolitische Arbeit in Deutschland.

Ein weiterer wichtiger Aspekt bei älteren Menschen mit Migrationshintergrund ist das Thema Armut. Es ist bekannt, dass die Gruppe der Älteren mit Migrationserfahrung oftmals nur über ein geringes Einkommen verfügt. Eine schwierige finanzielle Situation kann Teilhabe und Partizipation hemmen, denn auch ein Ehrenamt muss man sich leisten können. Schon der regelmäßige Gang zum Friseur für ein gepflegtes Erscheinungsbild kann auf lange Sicht eine finanzielle Belastung darstellen.

Welche Empfehlungen möchten Sie Anderen mit auf den Weg geben?

Institutionen, Organisationen und Vereine, die politische oder auch soziale Partizipationsmöglichkeiten von älteren Menschen mit Migrationserfahrung systematisch fördern und ausbauen wollen, sollten aufsuchend arbeiten, Beispiele guter Praxis bekannter machen, sich vernetzen und mit Multiplikatorinnen und Multiplikatoren zusammenarbeiten.

Es reicht nicht aus, Partizipationsmöglichkeiten abstrakt in Präsentationen oder Flyern aufzulisten. Auch hier ist es nötig, Aha-Erlebnisse auszulösen. Das kann beispielsweise über Vergleiche zur Arbeit von Betriebsräten oder Gewerkschaften erfolgen, die viele ältere Menschen mit Migrationserfahrung kennen und schätzen gelernt haben.

An einigen Punkten wird erst ein Perspektivwechsel das Entstehen neuer Ideen und Wege ermöglichen. Auffällig ist, dass Ältere mit Migrationserfahrung nie als erfolgreich Alternde, sondern immer als marginalisiert und sozial abgehängt beschrieben werden. Im Zuge dessen werden auch die Möglichkeiten und Grenzen gesellschaftlicher und politische Partizipation älterer Menschen mit Migrationserfahrung  in der Fachöffentlichkeit oftmals skeptisch diskutiert. Zu fragen ist jedoch, wie politische Partizipation Älterer in Bezug auf beispielsweise das Sozial- und Gesundheitswesens zukünftig gestaltet werden kann. Wir haben hier durchaus Chancen, innovative Umgangsweisen mit Vielfalt zu finden.

Die Fragen stellteMaria Nicolai.

Das Kompetenz Zentrum Interkulturelle Öffnung der Altenhilfe war unter anderem bei der zwölften Landesgesundheitskonferenz „Migration und Gesundheit - Berlin vor neuen Herausforderungen?“ am 02. Dezember 2015 in Berlin mit einem Impulsvortrag zum Fachforum „Migration und Interkulturelle Öffnung“ beteiligt.
Rund 250 Teilnehmende diskutierten an diesem Tag im Umweltforum über Herausforderungen beim Zugang zum Gesundheits- und Versorgungssystem sowie bedarfsgerechter Versorgung und einer interkulturellen Öffnung von Strukturen und Angeboten. Im Fokus standen gesundheitliche Bedarfe sowie Ressourcen und Kompetenzen von Menschen mit Migrationshintergrund in unterschiedlichen Lebensphasen und Generationen.
Lesen Sie hier den Nachbericht oder erhalten Sie einen ersten Überblick über die Inhalte mit den Präsentationen aus den Fachforen und Vorträgen in der Online-Dokumentation.

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