03.07.2023
Kommunale bewegungsbezogene Gesundheitsförderung in Deutschland
Eine systematische Übersicht und Projekte guter Praxis
Lea Dippon, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Natalie Helsper, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Simone Kohler, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Philipp Weber, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Alfred Rütten, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Klaus Pfeifer, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Leonie Birkholz, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Jana Semrau, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Schlagwörter:kommunale Bewegungsförderung, Good Practice, Qualitätskriterien, Gesundheitliche Chancengleichheit
Hintergrund
Ansätze der kommunalen bewegungsbezogenen Gesundheitsförderung werden empfohlen, um körperlicher Inaktivität in der Bevölkerung entgegenzuwirken (Kohl et al., 2012; Rütten & Pfeifer, 2016; World Health Organization, 2019). Zudem wird die Bedeutung der Kommune als umgreifende Lebenswelt zur Verbesserung der gesundheitlichen Chancengleichheit und Erreichbarkeit vulnerabler Bevölkerungsgruppen in den Bundesrahmenempfehlungen der Nationalen Präventionskonferenz hervorgehoben (Die Träger der Nationalen Präventionskonferenz, 2018). National existieren zahlreiche Projekte zur Bewegungsförderung in Kommunen, die sich in den Zielen, den Inhalten, der Qualität der Umsetzung und der Wirksamkeit stark unterscheiden können. Um begrenzte Ressourcen im Bereich der Prävention und Gesundheitsförderung sowie vorhandene Synergien optimal zu nutzen, kommt der Umsetzung und Verbreitung vorhandener Good-Practice-Projekte eine zentrale Rolle zu (Weber et al., 2022). Der vorliegende Artikel hat zum einen das Ziel, eine systematische Übersicht zur kommunalen bewegungsbezogenen Gesundheitsförderung in Deutschland darzustellen. Zum anderen sollen in diesem Bereich Projekte guter Praxis identifiziert werden, die als Orientierungsrahmen für die Umsetzung und Verbreitung von kommunalen bewegungsbezogenen Gesundheitsförderung genutzt werden können.
Vorgehen
Im ersten Schritt wurden Projekte über eine Suche in 4 wissenschaftlichen Datenbanken sowie 21 Projektdatenbanken identifiziert und Daten zu „Bundesland“, „Berücksichtigung gesundheitlicher Chancengleichheit“ und „Umsetzung im städtischen oder ländlichen Raum“ extrahiert. Zudem wurden eingeschlossene Projekte in Anlehnung an die Nationalen Empfehlungen für Bewegung und Bewegungsförderung (Rütten & Pfeifer, 2016) in politikbezogene Ansätze, informationsbezogene Ansätze, umweltbezogene Ansätze, Mehrkomponentenansätze oder Angebote und Veranstaltungen im Setting Kommune unterteilt. Im nächsten Schritt wurden Projekte mit einer dokumentierten Prozess- und/oder Ergebnisevaluation anhand von Qualitätskriterien in den Bereichen Konzipierung, Implementierung und Evaluation bewertet. Diese Qualitätskriterien wurden im Kontext der Formulierung der Nationalen Empfehlungen für Bewegung und Bewegungsförderung (Rütten & Pfeifer, 2016) entwickelt und berücksichtigen 24 Dokumente aus nationaler und internationaler sowie wissenschaftlicher und praxisbezogener Perspektive, u. a. das European Quality Instrument for Health Promotion (EQUIHP) (European Project Getting Evidence into Practice, 2005), Qualitätskriterien der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für Bewegungsförderung sozial benachteiligter Gruppen (World Health Organization, 2013), Qualitätskriterien für Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Primärprävention von Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, 2010) sowie die Kriterien guter Praxis in der Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, 2011).
Für diesen Artikel wurde festgelegt, dass ein Projekt aus den drei Bereichen Konzipierung, Implementierung, und Evaluation jeweils mindestens die Hälfte der Qualitätskriterien von Messing und Rütten (2017) erfüllen muss, um als Projekt guter Praxis ausgewählt zu werden.
Ergebnisse
Insgesamt wurden 240 Projekte der kommunalen bewegungsbezogenen Gesundheitsförderung erfasst. Davon wurden 119 Projekte im ländlichen Raum umgesetzt und 114 im städtischen Raum. Im ländlichen Raum wurden primär umweltbezogene Ansätze und im städtischen Raum vermehrt Mehrkomponentenansätze sowie Angebote und Veranstaltungen implementiert. Bei 124 Projekten wurden Aspekte der gesundheitlichen Chancengleichheit berücksichtigt.
45 Projekte wiesen eine ausreichende Dokumentation der Prozess- und/oder Ergebnisevaluation auf, wovon 17 Projekte guter Praxis identifiziert wurden. Davon erhielten 12 Projekte eine externe Finanzierung über Förderprogramme und 5 Projekte wurden über eine eigene Finanzierung der Kommune umgesetzt. Mehr als die Hälfte der Projekte guter Praxis (n=9) wurde in Landkreisen oder Städten (>50.000) mit niedriger Deprivation (GISD ≤ 3) umgesetzt, demgegenüber wurden in Landkreisen oder Städten (>50.000) mit einer hohen Deprivation (GISD ≥ 8) 3 Projekte umgesetzt.
Diskussion
Bei einem Großteil der Projekte wurde keine Prozess- und/oder Ergebnisevaluation dokumentiert, daher konnten nur 45 Projekte für die Bewertung anhand der Qualitätskriterien eingeschlossen werden. Bei extern finanzierten Projekten erschwert eine zeitliche Begrenzung der Förderzeiträume oftmals eine entsprechende Evaluation. Außerdem stellt die Evaluation von Mehrkomponentenansätzen, die ein Drittel der identifizierten Projekte umfassen, eine Herausforderung sowohl aus wissenschaftlicher Sicht als auch im Hinblick auf finanzielle, personelle und zeitliche Ressourcen dar. Dies ist darauf zurückzuführen, dass sich diese Ansätze oft durch eine hohe Komplexität aufgrund einer Vielzahl interagierender Komponenten auszeichnen, die in Kommunen umgesetzt werden, die wiederum selbst ein komplexes, dynamisches System darstellen (Hawe, 2015; Kavanagh, Shiell, Hawe & Garvey, 2020; Shiell, Hawe & Gold, 2008). Während sich in der evidenzbasierten Medizin randomisiert kontrollierte Studien als „Gold-Standard“ etabliert haben, gibt es bisher keinen „Gold-Standard“ für die Evaluation komplexer bevölkerungsbezogener Ansätze mit Fokus auf Verbesserung der gesundheitlichen Chancengleichheit in komplexen Systemen (Francis-Oliviero et al., 2020). Von den 45 bewerteten Projekten konnten nur 17 Projekte als Projekte guter Praxis ausgewählt werden, da auch hier bei vielen Projekten eine fehlende Dokumentation von Qualitätskriterien in der Evaluation vorlag.
Insgesamt zeigt sich, dass Optimierungspotential besteht bei der Adressierung von gesundheitlicher Chancengleichheit, einer aktiven Beteiligung von Menschen in schwierigen Lebenslagen über den gesamten Projektzyklus sowie der Implementierung von Mehrkomponentenansätzen. Dies erfordert Förderprogramme, die strukturbildende Projekte guter Praxis ermöglichen und insbesondere deprivierte Kommunen erreichen. Ein von Akteur*innen aus Wissenschaft, Praxis und Politik gemeinsam verabschiedeter Standard zur Anwendung der Qualitätskriterien und einer damit einhergehenden Legitimation für die Bezeichnung als gute Praxis könnte einen Mehrwert für die strategische Weiterentwicklung der kommunalen bewegungsbezogenen Gesundheitsförderung in Deutschland bieten.
Link zu einer Langfassung dieses Artikels.
Hier finden Sie die Präsentation von Lea Dippon auf dem Kongress Armut und Gesundheit 2023.
Literaturverzeichnis
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. (2010). Qualitätskriterien für Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Primärprävention von Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen (Band 13). Köln: Eigenverlag.
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. (2011). Kriterien guter Praxis in der Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten (Band 5). Köln: Eigenverlag.
Die Träger der Nationalen Präventionskonferenz (Hrsg.). (2018). Bundesrahmenempfehlungen der Nationalen Präventionskonferenz nach § 20d Abs. 3 SGB V. Erste weiterentwickelte Fassung vom 29. August 2018. Berlin: BBGK Berliner Botschaft Gesellschaft für Kommunikation mbH.
European Project Getting Evidence into Practice. (2005). European Quality Instrument for Health Promotion (EQUIHP).
Francis-Oliviero, F., Cambon, L., Wittwer, J., Marmot, M. & Alla, F. (2020). Theoretical and practical challenges of proportionate universalism: a review. Revista Panamericana De Salud Publica, (44), e110. doi.org/10.26633/RPSP.2020.110
Hawe, P. (2015). Minimal, negligible and negligent interventions. Social Science & Medicine (1982), 138, 265–268. doi.org/10.1016/j.socscimed.2015.05.025
Kavanagh, S., Shiell, A., Hawe, P. & Garvey, K. (2020). Resources, relationships, and systems thinking should inform the way community health promotion is funded. Critical Public Health, 32(3), 273–282. doi.org/10.1080/09581596.2020.1813255
Kohl, H. W., Craig, C. L., Lambert, E. V., Inoue, S., Alkandari, J. R., Leetongin, G. et al. (2012). The pandemic of physical inactivity: global action for public health. The Lancet, 380(9838), 294–305. doi.org/10.1016/S0140-6736(12)60898-8
Messing, S. & Rütten, A. (2017). Qualitätskriterien für die Konzipierung, Implementierung und Evaluation von Interventionen zur Bewegungsförderung: Ergebnisse eines State-of-the-Art Reviews. Das Gesundheitswesen, 79(S 01), S60-S65. doi.org/10.1055/s-0042-123378
Rütten, A. & Pfeifer, K. (2016). Nationale Empfehlungen für Bewegung und Bewegungsförderung. Erlangen: FAU University Press.
Shiell, A., Hawe, P. & Gold, L. (2008). Complex interventions or complex systems? Implications for health economic evaluation. BMJ, 336(7656), 1281–1283. doi.org/10.1136/bmj.39569.510521.AD
Weber, P., Birkholz, L., Kohler, S., Helsper, N., Dippon, L., Rütten, A. et al. (2022). Development of a Framework for Scaling Up Community-Based Health Promotion: A Best Fit Framework Synthesis. International Journal of Environmental Research and Public Health, 19(8). doi.org/10.3390/ijerph19084773
World Health Organization. (2019). Global Action Plan on Physical Activity 2018-2030: More Active People for a Healthier World. World Health Organization.
World Health Organization. (2013). Physical activity promotion in socially disadvantaged groups: principles for action: PHAN Work Package 4 (No. WHO/EURO: 2013-4480-44243-62498). World Health Organization. Regional Office for Europe.