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12.08.2013

Kommunale Organisations- und Qualitätsentwicklung: Gemeinsam, prozessual, langsam!

Reinhart Wolff, Kronberger Kreis für Dialogische Qualitätsentwicklung e.V. & Siegfried-Bernfeld-Institut für Praxisforschung und Qualitätsentwicklung

Schlagwörter:Interview, Kommunen, Präventionsketten, Strukturaufbau

Ein Aus­schnitt aus dem Impulsbeitrag von Prof. Dr. Reinhart Wolff im Rahmen des Fachaustausches "Gesund auf­wach­sen in Ber­lin - Res­sour­cen bün­deln, Prozesse steu­ern und Strukturen auf­bau­en“ am 14.02.2013

„Bei diesem Fachaustausch soll diskutiert wer­den, wa­rum bereichsübergreifende Zu­sam­men­ar­beit für ein gesundes Aufwachsen in Kom­mu­nen wich­tig ist und wie das ge­lin­gen kann. Die erste Fra­ge, die ich mir nun stelle ist, wer hier heute ei­gent­lich zu­sam­men gekommen ist, um sich fach­lich auszutauschen? An diesem Fachaustausch neh­men of­fen­bar Menschen teil, die da­bei sind, in gesellschaftliche Verhältnisse einzugreifen, um Menschen in ih­rem Le­bens­lauf an ih­ren jeweiligen sozialen Orten kon­ti­nu­ier­lich und nach­hal­tig zu be­glei­ten. Vor allem aber, um diejenigen mit Hilfen zu er­rei­chen, die be­son­ders belastet sind. Dabei ste­hen wir al­ler­dings vor ei­nem großen Problem: Es gibt zwar über­all einzelne Ak­teure mit im­mer mehr autonomen Spielräumen, aber wir sind den­noch eingebunden in un­se­re persönlichen Lebensverhältnisse, um die herum sich komplexe soziale Umgebungssysteme aufgebaut haben.

Sie als Teilneh­mende hier auf diesem Fo­rum sind of­fen­bar Ak­teure in diesem Netz­werk multiprofessioneller Or­ga­ni­sa­ti­onssysteme, von Institutionen der Vergesellschaftung, die um die Einzelnen herum gebaut sind, wie z. B. Bildungseinrichtungen, Gesundheitsämter, Projekte, Verei­ne oder auch staatliche Verwaltungen. In diesem vergesellschafteten Kon­text haben wir viele Professionen entwickelt, die ih­re vielgestaltigen Auf­ga­ben wahr­neh­men, ih­re besonderen Rol­len aus­prä­gen, sich ab­gren­zen und zu­gleich auf­ei­nan­der an­ge­wie­sen und (mehr oder weniger lo­se oder strikt) gekoppelt sind.

Daraus folgt: Wir ste­hen vor ei­ner doppelten Herausforderung: Wie kön­nen wir die Selbsttätigkeit, die Au­to­no­mie der Menschen un­ter­stüt­zen, oh­ne dass sie in diesen gesellschaftlichen Zusammenhängen verschwinden? Die Fol­gen die­ser Ent­wick­lung müs­sen freilich kri­tisch be­dacht wer­den: Vergesellschaftung läuft nicht nur da­rauf hinaus Ent­wick­lungs- und Schutzräume um die Menschen herum zu bau­en, son­dern kann auch zu ei­nem Ge­fäng­nis wer­den.

Dass die Menschen „institutionenbedürftig“ seien und institutionelle Stüt­zen brau­chen, stellte Ar­nold Gehlen im­mer wie­der gern heraus (vgl. ins­be­son­de­re  A. Gehlen 1970 und 1957). Kein Wun­der, dass ei­ne solche 'Containment-Philosophie' von konservativen Erziehungs- und Gesellschaftstheoretikern geschätzt wird.  Wenn wir nun aber demokratisch-entwicklungsoffene Ent­wick­lungsförderung be­trei­ben wol­len, muss der Fo­kus erweitert wer­den: Wir müs­sen jeden einzelnen Menschen als kompetenten und mündigen Ak­teur so­wie die Or­ga­ni­sa­ti­on und deren Ak­teure, die Fach­leu­te im Blick haben. Bei der Ent­wick­lung von Stra­te­gien der Ko­o­pe­ra­ti­on haben wir es al­so im­mer mit Ak­teuren und mit Or­ga­ni­sa­ti­onen zu tun. An die­ser Stel­le schließt sich so­fort die Fra­ge an, was denn die Auf­ga­be die­ser professionellen Or­ga­ni­sa­ti­onen und die­ser ganz verschiedenen Ak­teure ist?

"The System of Professions"

Andrew Abbott, einer der wichtigsten modernen Organisationswissenschaftler, benennt in seinem Standardwerk „The Sys­tem of Professions“ (1988) drei Schritte in der Aufgabenwahrnehmung der professionellen Akteure:

1. Schritt: Problemkonstruktion/-analyse
Abbot stellt für Professionelle heraus: Man braucht als Fach­kraft erst einmal ei­ne tragfähige Problemkonstruktion, auf deren Ba­sis und un­ter Verwendung des vorhandenen professionellen Wissens in ei­nem nächsten Schritt Schluss­fol­ge­rung­en gezogen wer­den.

2. Schritt: Schlüsse zie­hen
Welche Schluss­fol­ge­rung­en kön­nen aus die­ser Problemanalyse gezogen wer­den? Die Problemanalyse und die da­raus gezogenen Schluss­fol­ge­rung­en bil­den die Grundlage für die Ent­wick­lung einer Stra­te­gie für gute Qua­li­tät und für multipolare Ge­sund­heits­för­de­rung.

3. Schritt: Die (aus den Schluss­fol­ge­rung­en als sinn­voll erkannten) Programmkonzepte um­set­zen, mit der Ar­beit be­gin­nen
Um das Ganze zu kon­kre­ti­sie­ren, könnte man die folgenden Fra­gen for­mu­lie­ren: Wie set­zen wir an? Wie ge­stal­ten wir den Hilfeprozess? Wie si­chern wir nach­hal­tig die Par­ti­zi­pa­ti­on der Akteure? Wie er­fas­sen, do­ku­men­tie­ren, un­ter­su­chen und eva­lu­ie­ren wir die Hilfeprozesse? Vielleicht auch: Wie er­for­schen wir sie und wie ent­wi­ckeln wir sie wei­ter?

Zusammengefasst geht es in der pro­fes­si­o­nellen Pra­xis, nach Abbott, um ei­ne scharfe Problemkonstruktion, um da­raus abgeleitete Schluss­fol­ge­rung­en und schließ­lich um entsprechende Stra­te­gien, Programme und Me­tho­den zur Um­set­zung.

Das Problem ist nun: Wir ar­bei­ten in der Re­gel in ei­nem Feld hoch komplexer Sys­teme, wo unterschiedliche Akteure, Rah­men­be­din­gung­en und Res­sour­cen, In­te­res­sen und Auf­ga­ben ei­ne Rol­le spie­len. Vor allem sind diese Kontexte, in de­nen wir ar­bei­ten, aber lebende Sys­teme, die sich selbst be­stim­men und im­mer we­der neu ka­li­brie­ren und die man des­we­gen nicht ein­fach „steu­ern“ kann. Als Fach­kraft muss man sich al­so im­mer wie­der neu in die­ses lebende Sys­tem ein­brin­gen und es vor allen Dingen verstehen. Zudem stellt sich für Professionelle die Fra­ge, wie sie ih­re Pra­xis in diesem komplexen, von Zufällen und Unsicherheiten bestimmten Sys­tem or­ga­ni­sie­ren.

Hierfür haben sich vornehmlich zwei Handlungsperspektiven er­ge­ben: Die ei­ne läuft da­rauf hinaus, Verfahrensregelungen zu vereinbaren, mög­lichst viel im All­tag festzulegen, um das dynamische Geschehen we­nigs­tens ei­ni­ger­ma­ßen im Griff zu haben. Die an­de­re Per­spek­ti­ve intendiert, die Pra­xiskommunikationen der Akteure eher lo­se (als strikt) zu kop­peln - bei gleich­zei­tig fortlaufender programmatischer und methodischer Ent­wick­lung und Konturierung der Auf­ga­benwahrnehmung in der gesamten Ein­rich­tung. Denn man weiß, lebende Sys­teme las­sen sich schlecht fest­le­gen und kontrollieren, aber sie las­sen sich pfle­gen, re­fle­xiv an­re­gen, kommunikativ er­wei­tern und in ih­rer mehrseitigen Am­bi­gu­i­tät oder Vielfältigkeit acht­sam ba­lan­cie­ren.

In allen Professionssystemen gibt es ein Schwanken zwi­schen Re­ge­lung und spontaner Of­fen­heit, zwi­schen organisationaler Fest­le­gung und Struk­tu­rie­rung und permanenter Selbst- und Neuerzeugung. Überhaupt kann man sich klar­ma­chen, dass diese organisatorische Pra­xis et­was Pro­zessuales ist, et­was, das in Be­we­gung ist. Und da­bei spie­len not­wen­di­ger­wei­se Formen der Zu­sam­men­ar­beit ei­ne zen­trale Rol­le. Wenn ich zum Bei­spiel jemanden be­ra­ten will, kann ich das nicht al­lei­ne ma­chen. Das heißt, Ko­pro­duk­ti­on ist die basale Voraussetzung da­für, dass über­haupt et­was geschieht und gelingt. Auch Wissen ist et­was Koproduziertes. Es bedarf im­mer ei­nes Austausches, ei­ner In­ter­ak­ti­on, ei­nes Dialogs. Wenn al­so Ko­pro­duk­ti­on bzw. Zu­sam­men­ar­beit das basale Prinzip in humanen Dienstleistungsorganisationen ist, dann bedeutet das auch, dass Formen der Ko­o­pe­ra­ti­on und der Ge­gen­sei­tig­keit entwickelt wer­den müs­sen, so dass wir als Akteure tat­säch­lich et­was mit Menschen in­ner­halb und au­ßer­halb der Organisationen zu­sam­men in ei­nem Pro­zess gegenseitigen Nehmens und Gebens be­gin­nen kön­nen.

Wovon hängt aber nun der Er­folg in un­se­rer Ar­beit ab? Man kann grund­sätz­lich er­folg­reich ar­bei­ten, wenn man für die gemeinsame Pra­xis mehrseitige Architekturen entwickelt. Das bedeutet,  wenn man kon­se­quent mit all denjenigen zu­sam­menarbeitet, die über­haupt be­trof­fen sind, die un­se­re Dienst­leis­tung­en nut­zen, die pro­fes­si­o­nell mit dem Pro­zess zu tun haben und die zen­tral oder teil­wei­se zu­stän­dig sind.

Die Er­fah­rung­en, die wir da­bei mit dem Kon­zept "Dialogisches ElternCoaching und Konfliktmanagement" (vgl. Wolff, R. /Stork, R. 2012) - hier ar­bei­ten Er­zie­her/in­nen ei­ner Kita, Leh­rer/in­nen ei­ner Grund­schu­le, bzw. So­zi­al­ar­bei­ter/in­nen des Jugendamtes oder Frei­er Träger - gewissermaßen wie in ei­nem Tan­dem - mit Eltern zu­sam­men - un­ter­strei­chen, dass die familiären Sys­teme mit den pro­fes­si­o­nellen Sys­temen ganz an­ders, nämlich viel intensiver und bedachter, mit­ei­nan­der verknüpft wer­den müs­sen, und zwar vor allem auf der konzeptuellen Ba­sis partizipatorischer De­mo­kra­tie, so­li­da­rischen Engagements und offener Zu­nei­gung. Nur so kann man die Part­ner im Pro­zess da­von über­zeu­gen, dass es lohnt, sich auf­ei­nan­der einzulas­sen und er­folg­reich zu­sam­men zu wir­ken.

Aber wie steht es da­mit in heutiger Pra­xis?
Viele pro­fes­si­o­nelle Sys­teme sind lei­der als ziem­lich feindselige Agenturen aufgestellt, die im­mer wie­der vor allem im Blick haben: Die Menschen sind ge­fähr­lich. Oder wir als Ex­per­ten müs­sen ih­nen ir­gend­et­was bei­brin­gen und sie vor allem früh und von An­fang an kontrollieren. Frü­he Hilfe als Risikomanagement? Nein! Das geht vor die Wand, ist ein falscher Kurs! Weiter führt, wenn man sich von An­fang an öffnet, zu­ge­wandt und so­li­da­risch ist und den sich in modernen Sicherheitskulturen verstärkenden Kontrollwahn verabschiedet (vgl. Schir­mer 2008; Buzan /Waever/de Wilde1998). Insofern brau­chen wir ei­ne neue Phi­lo­so­phie, neue Leit­ideen, Programme und Me­tho­den so­wie vor allem auch neues Wissen und die In­ten­si­vie­rung un­ser Be­mü­hung­en um empirische Pra­xisforschung.

Gemeinsam eine neue Praxis entwickeln

In der Pra­xisforschung kann man auch jetzt schon mit dialogischer Qua­li­tätsentwicklung an­set­zen, wie sie bei­spiels­wei­se mit dem Auf­bau ei­ner Präventionskette in der Stadt Dormagen umgesetzt wurde, wie im „Dormagener Qua­li­tätskatalog der Kinder- und Jugendhilfe (2011) nachzulesen ist. Eine neue Pra­xis stellt sich je­doch nicht ein­fach her. Man muss es vielmehr sel­ber für rich­tig fin­den, neu anzufangen und ei­ne neue Pra­xis ge­mein­sam ent­wi­ckeln, tra­gen und dann auch or­ga­ni­sa­to­risch stüt­zen.

Pro­zesse sind wirk­lich Pro­zesse. Man kann sie nicht ein­fach be­schlie­ßen. Man muss sie le­ben, muss ei­nen Pro­zess der ge­mein­samen Ent­wick­lung in Gang set­zen. In Dormagen war es bei­spiels­wei­se ein langer Weg, die Ko­o­pe­ra­ti­on von Schulen und Jugendhilfe so­wie anderen Ein­rich­tung­en aufzubauen. Angefangen mit ei­nem engagierten Präventionsbeauftragten und ei­ner Leh­re­rin, die al­le Fa­mi­lien ihrer zukünfigen Klasse ge­mein­sam besuchte, be­vor die Kinder in die Schule kamen, konnte die­ser Pro­zess im­mer wei­ter ausgebaut wer­den.  

Nicht zu­letzt muss man pro­gram­ma­tisch auf Dienste set­zen, die sich an al­le und nicht nur auf Sondergruppen der Be­völ­ke­rung rich­ten und ganzheitliche, multiprofessionell vernetze Dienste stark ma­chen, die das gute Aufwachsen von Kin­dern durch die För­de­rung von produktiven Le­bens­wei­sen und Lebensverhältnisse in der Verbindung von Ge­sund­heits­för­de­rung, Er­zie­hung und Bil­dung, Kinder- und von Gesundheits-, Sozial- und Bil­dungs­po­li­tik un­ter­stüt­zen.

Als Prinzip kön­nen wir da­für herausstellen: ge­mein­sam, pro­zes­su­al, lang­sam. In Dormagen hat es drei Jahre gedauert, bis die­ser Pro­zess der Qua­li­tätsentwicklung ab­ge­schlos­sen war. Wenn man et­was än­dern will, muss man die eigenen Grundeinstellungen und die Pra­xis-Philosophie än­dern und mit den Bür­ge­rin­nen und Bürgern so­wie den anderen Fach­leu­ten im Handlungsfeld neu an­set­zen und dann zu­sam­men ganz prak­tisch Qua­li­tät im Di­a­log ent­wi­ckeln.“

Literaturangaben

Buzan, Barry/Waever, Ole/de Wilde, Jaap (1998): Security. A New Framework For Ana­ly­sis. Boulder, Col. & Lon­don: Lynne Rienner Publishers.

Gehlen, Ar­nold (1970): Der Mensch. Sei­ne Na­tur und Stel­lung in der Welt. 2. Bde. Ge­samt­aus­ga­be Bd. 3, hg. von Karl-Siegbert Rehberg. Frankfurt a. M: Klostermann.

Gehlen, Ar­nold (1957): Die See­le im technischen Zeit­al­ter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Ge­sell­schaft. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt

Stadt Dormagen in Zu­sam­men­ar­beit mit Reinhart Wolff (Hrsg.) (2011) : Dormagener Qualitätskatalog der Kinder- und Jugendhilfe - Ein Mo­dell kooperativer Jugendhilfe. Op­la­den u. Farmington Hills: Verlag Bar­ba­ra Budrich. ISBN-Nr. 978-3-86649-057-4

Wolff, Reinhart u. Stork, Remi (2102):  Dialogisches ElternCoaching und Konfliktmanagement. Ein Methodenbuch für ei­ne partnerschaftliche Bildungsarbeit (nicht nur) in den Hilfen zur Er­zie­hung. Frankfurt a. M.: IGfH-Eigenverlag. 120 S. ISBN-Nr. 978-3-925146-81-7

Die vollständige Fas­sung des Impulsvortrages von Prof. Dr. Reinhart Wolff fin­den Sie in der Do­ku­men­ta­ti­on des Fachaustausches „Gesund auf­wach­sen in Ber­lin - Res­sour­cen bün­deln, Prozesse steu­ern und Strukturen auf­bau­en“. Am 14.02.2013 haben die Koordinierungstelle Ge­sund­heit­liche Chan­cen­gleich­heit Ber­lin und die Fachstelle für Prä­ven­ti­on und Ge­sund­heits­för­de­rung im Land Ber­lin in Ko­o­pe­ra­ti­on mit der Bar­mer GEK Ber­lin/ Bran­den­burg zu einem Fachaustausch ge­la­den. Rund 40 Fachkräfte auf Landes- und Bezirksebene in den Bereichen Ge­sund­heit, Bil­dung und Ju­gend sind der Ein­la­dung gefolgt. Die Do­ku­men­ta­ti­on zum Fachaustausch in Ber­lin fin­den Sie hier (PDF-Datei, 1,5 MB).

Der dem­nächst erscheinende Praxisleitfaden „Dialogische Qualitätsentwicklung im Kin­der­schutz“ (Hrsg.: Wolff/Acker­mann/ Biesel/Brandhorst/Heinitz/Patschke, 2013) gibt An­re­gung­en, wie man Qualitätsentwicklung kon­kret um­set­zen kann.

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