03.02.2016
"Lebenslagen gestalten - das Präventionsgesetz umsetzen"
Tagung der Diakonie am 8. Dezember 2015 in Berlin
Lea Winnig, bis April 2018: Gesundheit Berlin-Brandenburg e.V.
Tomas Steffens, Diakonie Deutschland – Evangelischer Bundesverband
Schlagwörter:Fachtagung, Prävention, Präventionsgesetz
Die gemeinsame Fachtagung der Diakonie Deutschland - Evangelischer Bundesverband und des Kooperationsverbundes Gesundheitliche Chancengleichheit informierte über wesentliche Inhalte des Präventionsgesetzes und gab Anlass, gemeinsam über Chancen und Herausforderungen im Zusammenhang mit seiner Umsetzung zu diskutieren. Herzstück der Veranstaltung bildeten fünf Workshops zu verschiedenen Settings der Gesundheitsförderung.
Eröffnet wurde die Tagung durch Maria Loheide, Vorstand Sozialpolitik Diakonie, und Dr. Frank Lehmann, Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Frau Loheide legte Positionen und kritische Punkte zum Präventionsgesetz aus Sicht der Diakonie dar. Sie hob den Abbau sozial bedingter Ungleichheit bei Gesundheitschancen hervor und plädierte für eine partizipative, lebensweltorientierte Gesundheitsförderung. Als kritisch bezeichnete sie die Frage nach der Finanzierung: Statt der vorherrschenden projektbezogenen Finanzierung müssten wesentliche Präventionsstrukturen gefördert werden. Dabei stehen Themen wie Kooperation und Berichterstattung im Vordergrund. Herr Dr. Lehmann betonte die gute Zusammenarbeit innerhalb des Kooperationsverbundes und die wesentliche Rolle der Wohlfahrtsverbände bei seiner Entstehung. Gerade in der Identifizierung und Sichtbarmachung von Beispielen Guter Praxis der Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten bildeten die Kenntnisse und Expertise der Wohlfahrtsverbände eine wertvolle Ressource.
Die Grundzüge des Präventionsgesetzes und seinen Aufbau stellte Olaf Liebig, Bundesgesundheitsministerium, Referat „Rechtsfragen der primären Prävention und Gesundheitsförderung, Betriebliche Gesundheitsförderung, Präventionsforschung“, vor.
Einen Überblick zu der Entwicklung in Bund und Ländern gab Stefan Pospiech, Gesundheit Berlin-Brandenburg e.V.. Wesentliche Akteure sind in diesem Zusammenhang die Landesvereinigungen für Gesundheit und die hier angedockten Koordinierungsstellen Gesundheitliche Chancengleichheit. Den Einbezug von Kommunen in die Entwicklung der landespezifischen Regelungen erklärte Stefan Pospiech als unerlässliche Voraussetzung für bedarfsgerechte Lösungen. Kritik übte er an der Tatsache, dass dies nicht bereits von Anfang an geschehen sei.
Auf Grund der Verzögerung der Beauftragung der BZgA durch die GKV ist auch die genaue Ausgestaltung der Finanzierungs- und Förderregelungen im Rahmen des Präventionsgesetzes derzeit noch offen. Zur grundsätzlichen Orientierung empfahl Stefan Pospiech den Akteuren den „Leitfaden Prävention“ der GKV als zentrales Dokument.
Der Austausch mit dem Publikum zeigte, dass gerade ausgefeilte Förderrichtlinien für kleine Einrichtungen häufig schwierig zu erfüllen sind. Hier besteht die Hoffnung, das Vorgehen über Landesrahmenvereinbarungen und die Etablierung von Landesprogrammen zu vereinfachen, als positives Beispiel für Landesprogramme nannte Stefan Pospiech „Gute gesunde Kita“ in Berlin. Die Landesvereinigungen könnten als vermittelnde Institution dafür Sorge tragen, auch die Interessen der Träger in die Entwicklung der Landesprogramme miteinzubeziehen.
Herr Pospiech empfahl den Trägern, selbst aktiv zu werden und die Mitarbeit in Vernetzungsgremien anzustoßen bzw. zu intensivieren (z.B. Gesundheitskonferenzen), trägerübergreifende Kooperationen anzustreben (z.B. im Stadtteil) und sich stärker der Reflektion eigener Konzeptionen und bestehender Qualitätsmanagementsysteme und deren Anknüpfungsmöglichkeiten zur Gesundheitsförderung zu widmen.
Im Anschluss an die Eröffnung folgte die Workshop-Phase mit folgenden Themen:
- Gesundheitsförderung in der stationären Pflegeeinrichtung
- Förderung psychischer Gesundheit
- Gesundheitsförderung in Kitas
- Gesundheitsförderung im Stadtteil
- Suchtprävention
Innerhalb der Workshops fanden lebhafter Austausch und Diskussionen zu folgenden Leitfragen statt:
Wie….
…verhalten sich die neuen gesetzlichen Regelungen und die daraus folgenden Vereinbarungen zu bestehenden Kooperations- und Steuerungsformen?
…können gute Praxisprojekte verstetigt oder initiiert werden?
…kann sich die Diakonie fachlich und politisch an der Entwicklung beteiligen und welche Verfahrensregeln sollten diakonische Dienste und Einrichtungen beachten?
Gesundheitsförderung im Stadtteil
Moderation: Lea Winnig, Kooperationsverbund Gesundheitliche Chancengleichheit
Der Workshop zum Setting Stadtteil wurde vom Kooperationsverbund Gesundheitliche Chancengleichheit ausgerichtet. Ausgehend von der Vorstellung guter Praxisbeispiele sowohl aus einem Berliner Bezirk als auch aus dem ländlichen Raum wurde gemeinsam nach Anknüpfungspunkten für die Umsetzung bzw Verstetigung von Maßnahmen der Gesundheitsförderung gesucht. Zunächst stellte Andrea Möllmann-Bardak, Koordinierungsstelle Gesundheitliche Chancengleichheit Berlin, aktuelle Entwicklungen auf Landesebene in Berlin vor. Sie ging dabei besonders auf den Aufbau integrierter kommunaler Strategien für Gesundheitsförderung („Präventionsketten“) ein. Einen Teil der Neuköllner Präventionskette bildet das Multiplikatorenprojekt „Stadtteilmütter“, das von Maria Macher, Diakonisches Werk Neukölln-Oberspree vorgestellt wurde.
Allgemeine Herausforderungen für Gesundheitsförderungen in entlegenen Regionen und ein Überblick über wesentliche diakonische Aktivitäten und Netzwerke in diesem Bereich gab Volker Amrhein, Diakonie Deutschland. Anhand konkreter Beispiele (regionaler Dorfzentren) zeigte er auf, welche Rolle Kirche/Diakonie als Partner bzw. Plattform für Regionalentwicklung einnehmen kann. Er betonte die Wichtigkeit der Öffnung der Diakonischen Werke für die Zusammenarbeit mit neuen Partnerinnen und Partnern.
Thomas Dörr, Diakonisches Werk Wittgenstein, stellte das Beispiel der Gemeindearbeit mit Diakonischen Gemeindemitarbeiterinnen zur Verbesserung der Lebens- und Versorgungssituation älterer Menschen vor. Das Konzept der Diakonischen Gemeindemitarbeiterinnen ist angelehnt an das Modell der Gemeindeschwester. Durch ihre Präsenz gestalten sie das Gemeinwesen in besonders intensiver Form mit: Sie tragen wesentlich zum Aufbau einer stabilen ehrenamtlichen Nächstenhilfestruktur bei, fungieren als wichtige Ansprechpartnerin für ältere Menschen und arbeiten eng mit Kirchen, Vereinen und der Kommune zusammen.
Gesundheitsförderung in der stationären Pflegeeinrichtung
Moderation: Manfred Carrier, Diakonie Deutschland
Sina Matthies, Verband der Ersatzkassen (vdek), stellte die Überlegungen der Kranken- und Pflegekassen zur diesbezüglichen Umsetzung des Präventionsgesetzes vor. Zu klären sind u.a. Fragen nach den präventiven Handlungsfeldern zur Leistungsabgrenzung und zum Einbezug von Kooperationspartnern. Die Kriterien zur Prävention in Pflegeheimen sollen Eingang in den „Leitfaden Prävention“ des GKV-Spitzenverbands finden. Bernhard Sprenger, Stephanus Wohnen und Pflege GmbH, betonte, dass die Lebenswelt „stationäre Pflegeeinrichtung“ sowohl für die Bewohnerinnen und Bewohner als auch für die Arbeitnehmer gesundheitsförderlich gestaltet werden sollte. Dabei sei wichtig, dass keine unfinanzierten Aufgaben auf die Einrichtungen zukämen oder der Bürokratieaufwand sich erhöhe.
Gesundheitsförderung in der Kita
Moderation: Christine Lohn, Diakonie Deutschland
Susanne Goldschmidt, Fachberatung für Kindertageseinrichtungen im Evangelischen Kirchenkreis Spandau, und Tanja Götz-Arsenijevic, Bezirksamt Spandau von Berlin, stellten das Netzwerk „Gesund Aufwachsen in Spandau“ und die Vorgehensweise zur Spandauer Präventionskette für Kinder und Jugendliche vor. Ein Ziel des Netzwerkes ist es, den interdisziplinären Austausch zu fördern und transparente und strukturierte Kommunikationsstrukturen zu schaffen.
Anhand des bundesweiten Programmes „JolinchenKids - Fit und gesund in der KiTa“ zeigten Nicole Müller und Merle Wiegand, AOK Nordost, Angebote der Krankenkasse für Kindertagesstätten auf. Die gemeinsame Diskussion im Workshop zeigte, dass es in Bezug auf die Lebenswelt Kita besonders im Bereich Informationsvermittlung und Kommunikation zwischen Institutionen und Berufsgruppen Verbesserungsbedarf gebe. Ein wesentliches Thema war auch die Wertschätzung der geleisteten Arbeit.
Förderung der psychischen Gesundheit
Moderation: Sabine Wetzel-Kluge, Diakonie Mitteldeutschland,
Dr. Eva-Maria Hähnel, Landesvereinigung für Gesundheitsförderung Thüringen, erläuterte die Bedeutung von und die Einflussfaktoren auf die psychische Gesundheit. Am Beispiel des Schulprojektes „Verrückt? Na und! Seelisch fit in Schule und Ausbildung“ wurde deutlich wie die Landesvereinigung in Thüringen das Arbeitsfeld psychische Gesundheit in kommunale Gesamtstrategien einbettet.
Workshop zur Suchtprävention
Moderation: Knut Kiepe, Gesamtverband für Suchthilfe
Knut Kiepe vom diakonischen Gesamtverband für Suchthilfe (GVS) skizzierte die ersten Ergebnisse einer Abfrage der Diakonie Deutschland und des GVS zur Suchtprävention und zur Umsetzung des Präventionsgesetzes in den Ländern. Dabei wurde deutlich, dass es bereits sehr viele gute Projekte in den Bundesländern gibt. Von der Umsetzung des Präventionsgesetzes werden die Verstetigung guter Projekte und die allgemeine Stärkung der Suchtprävention in den Ländern erwartet. Auch das zielgruppenspezifische arbeiten und der Ausbau der betrieblichen Arbeit sollen vorangetrieben werden. Besonders wichtig sei die Vernetzung und das gemeinsame Arbeiten, um unkoordinierte Einzelaktionen zu vermeiden.
Kerstin Jüngling, Geschäftsführerin der Fachstelle für Suchtprävention Berlin ging in ihrem Input auf die Evidenzbasierung der Suchtprävention, das Konzept der Berliner Präventionsketten und Praxisprojekte wie PEEaS - Peer Eltern an der Schule und Prev@work - ein. Während PEEaS sich an Grundschüler und deren Familien richtet, ist Prev@work ein in die Ausbildung integriertes Suchtpräventionsprogramm. Darüber hinaus spiele das Thema Sucht auch im Alter eine große Rolle.
- Knut Kiepe vom diakonischen Gesamtverband für Suchthilfe (GVS)
- Kerstin Jüngling, Geschäftsführerin der Fachstelle für Suchtprävention Berlin
Im Anschluss an die Workshop-Phase fand eine gemeinsame Diskussion im Plenum statt.
Zum Einstieg wurde kurz aus den Workshops berichtet.
Das Präventionsgesetz als Chance zur Weiterentwicklung und Ausbau von Strukturen
Deutlich wurde noch einmal, dass „das Präventionsgesetz trotz einiger Ecken und Kanten als Riesenchance“ gesehen werden kann. Dabei ist zu beachten, dass hierüber nicht vorrangig Personalstellen bei den Trägern finanziert werden können, sondern es eher darum geht, bestehende Strukturen und Prozesse weiterzuentwickeln und auszubauen. Daher gehe es besonders um folgende Fragen: „Welche Strukturen können wir aufbauen? Welche sind schon da? Wie können wir Akteure zusammenbringen und verlässliche Verträge miteinander schließen?“
Gerade im Arbeitsbereich Sucht fehlt es an einer Koordinierungsstruktur. Hier wurde die Forderung nach einer Steuerungsform auf Landesebene deutlich. Auch wurde betont, dass die Wohlfahrtspflege dringend bei den Verhandlungen der Landesrahmenvereinbarungen mit am Tisch sitzen sollte.
Transparenz in die Diskussion um das Präventionsgesetz bringen!
Grundsätzlich mischt sich die Diskussion um das Gesetz häufig mit Fragen nach gesamtgesellschaftlichen Aufgaben. Der Wunsch nach einer stärkeren Transparenz wurde hier deutlich. Zum einen kann diese durch einen vermehrten Austausch und zum anderen durch eine klare Aufgabendefinition gefördert werden. Man solle „seine Türen wieder stärker öffnen und Fachexpertinnen und -experten in den Ländern mit einbeziehen“.
Gefordert wird auch die Beteiligung der Krankenkassen an kommunalen und landesweiten Vernetzungsstrukturen. Wünschenswert ist aus Sicht der Akteure eine Transparenz über die Ansprechpartner, Präventionsträger und klarere Zugangswege zu Kassen sowie die Abstimmung der Leistungsangebote untereinander.
Am Beispiel des Pflegebereiches wird dies besonders deutlich: Förderungsrelevant sind hier verschiedene SGB-Bereiche, welches auch unterschiedliche Kassenzuständigkeiten zur Folge hat. Somit müsste eine Pflegeeinrichtung viele verschiedene Anträge ausfüllen, was praktisch meist gar nicht leistbar ist. Hier entstand die Idee der Abstimmung der Kassen untereinander, so dass jeweils eine Kasse für einen Themenbereich federführend agieren kann. Diese würde dann jeweils in das Lenkungsgremium der Pflegeeinrichtung mit eingeladen und somit an der Entwicklung des Gesamtkonzeptes für die Pflegeeinrichtung beteiligt. Die federführende Kasse würde dann klären, aus welchem Förderauftrag das benötigte Geld kommen kann.
Mut zu Innovation und Verzicht
Abschließend gab Dr. Tomas Steffens, Medizinische Rehabilitation, Prävention und Selbsthilfe, Zentrum Gesundheit, Rehabilitation und Pflege, Diakonie Deutschland - Evangelischer Bundesverband, den Anwesenden noch einige motivierende Worte auf den Weg. Die Umsetzung des Präventionsgesetzes erfordere Mut: Mut zu Innovation aber auch Mut zum Verzicht auf die Kontrolle von Lebenstilen und zur Besinnung auf bereits Bewährtes. Vor allem aber auch den Mut, Bedarfe von Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, die sonst nicht im Mittelpunkt der gesellschaftlichen Diskussion stehen.
Hier finden Sie den Flyer der Veranstaltung.