02.06.2015
Lebensort Vielfalt
Ein schwules Mehrgenerationenhaus
Dieter Schmidt, Schwulenberatung Berlin gGmbH
Marco Pulver, Schwulenberatung Berlin gGmbH
Schlagwörter:Demenz, Lebenswelten, Männergesundheit, Pflege, psychische Gesundheit, sexuelle Gesundheit, Sozialraum, Ältere
Die bedarfsgerechte Ausstattung von Wohnungen, das soziale Umfeld, Angebote zur Teilhabe und der Einbezug besonderer Bedürfnisse der Bewohner sind eine wesentliche Voraussetzung für Wohlbefinden und Gesundheit. Das 2012 eröffnete, europaweit erste schwule Mehrgenerationenhaus setzt hier an: Mit facettenreichen Angeboten bietet es den Mietern in Berlin-Charlottenburg ein bedarfsgerechtes Zuhause und macht gelebte Vielfalt wahr. Die meisten Wohnungen in diesem Haus bewohnen schwule Männer im Alter von 55 bis 85 Jahren. Diese Männer haben einen Großteil ihres Lebens in Angst vor Diskriminierung und strafrechtlicher Verfolgung aufgrund ihrer Homosexualität leben müssen. Sie genießen die Tatsache, dass Schwulsein im Lebensort Vielfalt selbstverständlich ist. Genauso wichtig ist den schwulen Bewohnern aber auch, dass einige Wohnungen für Frauen und jüngere Männer reserviert sind und daher nicht das Gefühl entsteht, in einem „Altenheim“ oder „Schwulen-Reservat“ zu leben. Die Mieterinnen und Mieter legen Wert auf eine gelebte Nachbarschaft und gemeinschaftliche Aktivitäten. Auf diese Weise hat man sich inzwischen gut kennengelernt und es ist eine starke Hausgemeinschaft entstanden.
Die Wohnungen: Barrierefrei und mietergerecht
Insgesamt verfügt das Haus über 24 Wohnungen, größtenteils Zweiraumwohnungen, aber auch mehrere Einraum-, Dreiraum- und eine Vierraumwohnungen. Der Umbau aller Wohnungen wurde nach einer Entkernung der oberen Stockwerke des Gebäudes entsprechend der Pläne des Architekten Ullrich Schop barrierefrei und zum Teil rollstuhlgerecht ausgeführt. An der Gestaltung der Wohnungen und des Hauskonzepts waren auch viele beteiligt, die vor dem Umbau des Gebäudes an einer sogenannten Haus-AG teilnahmen, in der das Projekt geplant und diskutiert wurde. So wurden gemäß dem Wunsch der Bewohner z. B. einige Wohnungen mit einer separaten, andere mit einer offenen Küche ausgestattet. Ein Teil der Bäder ist mit einer barrierefreien, bodengleichen Dusche versehen, ein anderer Teil mit einer Badewanne. Alle Wohnungen haben einen Südbalkon. Die Wohnungsmieten liegen zurzeit bei durchschnittlich 11 Euro Warmmiete pro Quadratmeter. Die kleineren Wohnungen im Lebensort Vielfalt haben einen reduzierten Mietpreis und sind auch für Menschen mit geringem Einkommen bzw. ALG-II-Bezug („Hartz IV“) erschwinglich.
Einbindung und soziale Teilhabe im Lebensraum Vielfalt
Die Beteiligung Vieler an der Konzeptentwicklung des Lebensortes Vielfalt ist ein wesentlicher Grund dafür, dass sich die Menschen hier wohlfühlen. Neben den erwähnten Wohnungen beherbergt das Gebäude in der Niebuhrstr 59/60 auch ein Restaurant mit Veranstaltungsbetrieb - der „Wilde Oscar“ -, eine betreute Wohngemeinschaft für schwule Männer mit Pflegebedarf und Demenz, eine schwul-lesbische Ausleihbibliothek sowie Büros und Beratungsräumen der Schwulenberatung Berlin.
Die Schwulenberatung Berlin, Vermieter des Lebensortes Vielfalt, ist die größte psychosoziale Versorgungseinrichtung für schwule und bisexuelle Männer. Sie bietet auch Menschen mit HIV und AIDS, Transidenten und Intersexuellen Beratung und Unterstützung. Die Schwulenberatung Berlin hat ihre Büros im ersten Stock des Gebäudes bezogen. Sie nutzt außerdem zwei Gruppenräume im Erdgeschoss. Dort befindet sich auch der Empfang für Besucher des Hauses.
Der Lebensort Vielfalt wurde durch die Schwulenberatung Berlin realisiert, was nicht nur die Beschaffung der benötigten Gelder beinhaltete: Vielmehr waren auch die unterschiedlichen, sich zum Teil widersprechenden Belange der vielen beteiligten Personen, Gruppen, Organisationen - z. B. Bewohnerinnen und Bewohner, Stiftungen, Behörden, Mitarbeitende, Banken - zu berücksichtigen. Ein herausforderndes Unterfangen, das maßgeblich der Geschäftsführer der Schwulenberatung Berlin, Marcel de Groot, geleistet hat. Heute organisiert die Beratungsstelle die gesamte Verwaltung des Lebensortes Vielfalt sowie die sozialpädagogische Begleitung der Mieter in den oberen vier Etagen des Hauses.
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Seniorenprojekts der Schwulenberatung Berlin (Netzwerk Anders Altern) fördern die Hilfsbereitschaft und das Engagement der Bewohnerschaft untereinander. So wurde z. B. für alle, die sich verstärkt um jene Nachbarinnen und Nachbarn im Haus kümmern wollen, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind, ein kostenloses Rollstuhl-Training organisiert. Außerdem koordiniert das Netzwerk einen ehrenamtlichen Besuchsdienst (Mobiler Salon), der schwulen Männern in ganz Berlin, aber eben auch einigen Bewohnern des Hauses, zugutekommt. Die Schwulenberatung Berlin verspricht den Mietern im Lebensort Vielfalt, dass im Falle des Eintritts von Pflegebedürftigkeit ambulante Pflege organisiert wird und die Mieter nicht in eine Pflegeeinrichtung umziehen müssen. Nur in Ausnahmefällen wird ein stationärer Aufenthalt nicht vermeidbar sein.
Wohngemeinschaft für schwule Männer mit Pflegebedarf und Demenz
In der oben bereits erwähnten Wohngemeinschaft, im zweiten Stock der Niebuhrstr. 59/60, wird 24 Stunden täglich für acht Bewohner Pflege organisiert. Voraussetzung für den Einzug in die Wohngemeinschaft ist das Vorliegen einer Pflegestufe, weil die Pflege im nötigen Umfang und auf gleich bleibendem Qualitätsniveau ansonsten nicht realisierbar wäre.
In der WG leben Männer mit einer dementiellen Erkrankung zusammen mit anderen, die z. B. in Folge einer HIV-Erkrankung oder eines Schlaganfalls pflegebedürftig geworden sind. Die Altersstruktur der acht Bewohner liegt zwischen Anfang 50 und Mitte 80. Die Beleuchtung des sozialen Hintergrundes ergibt ein vielfältiges Bild: Neben einigen ganz auf sich allein gestellten Bewohnern verfügt ein anderer Teil durchaus über ein intaktes und sehr aktives familiäres bzw. freundschaftliches Umfeld, das in den Lebensalltag der Wohngemeinschaft möglichst eingebunden werden soll.
Angebote für physisches und seelisches Wohlbefinden
Um die pflegerische Versorgung der Bewohner zu gewährleisten, kooperiert die Schwulenberatung Berlin mit einem externen Pflegedienst. Ein festes Pflegeteam versorgt die Bewohner rund um die Uhr - zwei Pflegekräfte jeweils vor- und nachmittags sowie eine zur Nacht. Gezielt wurden vorwiegend schwule Pfleger eingestellt, um die Voraussetzung dafür zu optimieren, dass sich die Bewohner akzeptiert und verstanden fühlen. Auch für den Körperkontakt, der bei der Pflege eine große Rolle spielt, ist es nicht selten von Vorteil, dass die Pfleger Männer und selber schwul sind. Horst z. B., der nach einem Schlaganfall pflegebedürftig wurde, liebt es, von Sziard, den er „am liebsten heiraten“ würde, geduscht zu werden. Bei schwulen Pflegern kann außerdem ein umfangreiches Wissen über schwule Orte und Lebenswelten vorausgesetzt werden. Ob z. B. das „New Action“ oder das „Snaxx“ barrierefrei sind, kann der Bewohner Paul eher vom Pfleger Dieter als von Beate erfahren, auch wenn Beate schon seit Eröffnung der WG zum Pflegeteam gehört und die Welt schwuler Männer inzwischen viel besser kennt.
Ein Mitarbeiter des Netzwerk „Anders Altern“, Dieter Schmidt, Diplom-Psychologe und Coautor des vorliegenden Beitrags, ist 20 Stunden wöchentlich für die Betreuung der Bewohner und die Koordination nichtpflegerischer Leistungen zuständig. Konkret heißt das z. B., Gruppen- und Einzelgespräche anzubieten, mit den Bewohnern biographisch zu arbeiten, Krisenberatungen durchzuführen, Mitarbeitende der Beratungsstelle sowie Multiplikatorinnen und Multiplikatoren über das Projekt zu informieren oder Fortbildungen zu organisieren. Vor allem aber geht es darum, die Bewohner zu motivieren, geeignete Außenaktivitäten wahrzunehmen. So nehmen drei Mieter der Pflege-WG mittlerweile an der im Rahmen des Netzwerks „Anders Altern“ angebotenen Theatergruppe „Rosa Falten“ teil. Der Psychologe kümmert sich aber nicht nur um eine gute Integration pflegebedürftiger Mieter, er garantiert außerdem, als Bindeglied zwischen der Schwulenberatung und der Wohngemeinschaft bzw. dem Pflegedienst, einen qualifizierten fachlichen Austausch.
Der Lebensort Vielfalt freut sich über Besuch. Wer nicht nur auf einen Kaffee im Wilden Oscar vorbei schauen, sondern sich ausführlicher informieren will, vereinbart am besten einen Termin.
Kontakt: info(at)schwulenberatungberlin.de