22.11.2011
Macht Arbeitslosigkeit krank?
Erfahrungen aus dem Good-Practice-Projekt "Frauengesundheit in Tenever" in Bremen
Jutta Flerlage, Frauengesundheit in Tenever, FGT
Schlagwörter:Bildung, Frauengesundheit, GP-Projekte, Integration, Migration
Gespräche mit teilnehmenden Frauen im Projekt „Frauengesundheit in Tenever“ bringen zum Ausdruck, dass nicht Migration an sich krank macht, sondern die Lebensbedingungen der Familien vor Ort. Gesundheitliche Belastungen entstehen durch Armut, durch Diskriminierungserfahrungen und mangelnde Integrationschancen, durch geringe Bildung und eingeschränkte Deutschkenntnisse.
Armut in Tenever
Das Leben der Mehrheit der BewohnerInnen ist gekennzeichnet durch soziale Benachteiligung und besonders belastende Lebensgeschichten. Laut Sozialindex des Bremer Sozialressorts ist Tenever der am meisten benachteiligte Stadtteil, vor allem in den Bereichen Bildungsbeteiligung, Entmischung, Konfliktpotential sowie Erwerbs- und Einkommensverhältnisse. Der Anteil von Kindern mit elterlichem Sozialhilfe- oder ALG-II-Bezug liegt bei knapp 60 Prozent, zum Vergleich der Gesamtbremer Durchschnitt liegt bei 30 Prozent. Tenever ist der kinderreichste Stadtteil und es ist keine Seltenheit, dass Frauen hier fünf bis zehn Kinder haben.
Ressourcen: Psychosoziale Beratung
Es gibt immer mutige Frauen, die die Vorreiterrolle übernehmen und so andere Frauen mitziehen. Eine hat z.B. gesagt, „Im Koran steht nicht, dass Frauen nicht Rad fahren sollen!“ So hat sie auch andere überzeugt, sich zu trauen und Rad fahren zu lernen.
Mitarbeiterinnen des Frauengesundheitstreffs Tenever achten besonders darauf, dass die Mädchen sich nicht nur in ihre jeweilige kulturelle Gruppe zurückziehen, sondern weiter in der Auseinandersetzung mit der Mehrheitsgesellschaft bleiben. Sie werden ermutigt, sich für ihre Belange einzusetzen. Einige Mädchen der Gruppe gehen auch als Ehrenamtliche in den Stadtteil und helfen Bedürftigen, z.B. Älteren bei den Einkäufen und begleiten sie zu Ärzten, oder sie unterstützen Alleinerziehende bei der Kinderbetreuung. Außerdem unterstützen sie sich gegenseitig mit einer Hausaufgabenhilfe und orientieren sich gemeinsam bezüglich ihrer Berufswahl und Ausbildungsplatzsuche.
Beratungen gehören zum Alltagsgeschäft im Frauengesundheitstreff. Häufig kommen die Frauen einfach und bitten um Unterstützung bei einem Problem. Das zeigt, wie viel Vertrauen hier über die Jahre aufgebaut wurde. Denn ohne eine lange und einfühlende Beziehungsarbeit würden die Frauen das Beratungsangebot nicht annehmen. Eine afghanische Frau berichtet, dass sie neun Jahre gebraucht hat, um genügend Vertrauen aufzubauen, um heute eine Gruppe von zwölf Frauen und ihren Familien für einen monatlichen Austausch zusammen zu bekommen.
Aber auch soziale und rechtliche Fragen, die an entsprechende Beratungsstellen weitervermittelt werden oder Unsicherheiten und Auseinandersetzungen mit Schulen finden in der psychosozialen Beratung Raum.
Armut - Auswirkungen auf die Familien
Wie bereits eingangs gesagt, lebt jede zweite zugewanderte Familie in Tenever von Sozialleistungen, in der Regel Hartz IV. Besonders die Frauen mit vielen Kindern sind hier in hohem Maße gefordert, mit wenig Geld die Familie zu ernähren. Um alle sauber und ordentlich einzukleiden, den Kindern die Schulsachen zu kaufen und Klassenausflüge zu ermöglichen, wird häufig vom Mund abgespart. Viele Familien mit Asylbewerberstatus bekommen noch mal 30 bis 35 % weniger als Hartz IV. Wie sie damit überleben, ist wirklich eine Kunst und eine hohe Leistung der Frauen, die für die Haushaltskasse zuständig sind.
Zu den finanziellen Sorgen dieser Familien kommen noch die Ängste, abgeschoben zu werden und der Druck, eine Arbeit finden zu müssen, die die Familie eigenständig finanziert. Oft sind die Familien auf gegenseitige Unterstützung von Verwandten und Bekannten angewiesen.
Oft fragen Leute, warum die Frauen denn so viele Kinder bekommen. Dafür gibt es mehrere Gründe: Für einige Frauen bzw. Paare ist Kinderreichtum der einzige Reichtum, den sie hier erreichen können und hat kulturell einen hohen Stellenwert. Die damit einhergehende Vorstellung ist auch die eigene Absicherung im Alter über die Kinder.
Aber manchmal ist es auch ein finanzielles Problem, dass die Frauen die Verhütungsmittel schlicht nicht bezahlen können. Daher begrüßen wir die Kampagne von ProFamilia, die den Gesetzgeber aufgefordert hat, Verhütungsmittel für Frauen und Männer, die von Transferleistungen leben, kostenfrei zu vergeben bzw. in den Hartz-IV-Satz mit aufzunehmen.
Und so manche Eltern können den Theaterbesuch oder die Klassenfahrt des vierten oder sechsten Kindes nicht mehr bezahlen. Dann schämen sie sich, dies öffentlich vor den anderen Eltern zu sagen und es entstehen Missverständnisse darüber, dass Eltern ihren Kindern Ausflüge verbieten würden. Dieses trägt zu den Vorurteilen bei, wenn die LehrerInnen hier nicht aufmerksam und zugewandt sind. In einem konkreten Fall konnte der falsche Verdacht einer Lehrerin durch ein längeres Gespräch aus dem Weg geräumt werden und eine Lösung über den unterstützenden Elternverein gefunden werden.
Weitere Informationen zum Projekt finden Sie unter: http://www.frauenstadtbuch.bremen.de/sixcms/detail.php?template=fsb_einrichtung_d&id=339517