28.05.2020
Macht Kultur gesund und wenn ja, ist es für alle?
Maria-Theresia Nicolai, Gesundheit Berlin-Brandenburg
Angela Meyenburg, KulturLeben Berlin - Schlüssel zur Kultur e.V.
Schlagwörter:Armut, Kultursensibilität, Teilhabe
zungsgemäß ermöglichen wir auch während der Corona-Krise unseren Kulturgästen und Partnereinrichtungen der Wohlfahrtspflege weiterhin kulturelle Teilhabe, indem wir täglich auf unserer Homepage und auf unseren Social Media Kanälen digitale Kulturangebote neu für sie zusammenstellen - national und international. Darüber hinaus vermitteln unsere Freiwilligen im persönlichen Telefonat Online-Kultur an unsere Gäste, damit sie trotz der schwierigen Situation nicht ganz auf kulturelle Erlebnisse verzichten müssen. So können wir einen kleinen Beitrag zur Krisenbewältigung leisten und den Gästen im persönlichen Gespräch ein wenig Motivation und Trost in Zeiten von Ausgangsbeschränkungen und Quarantäne spenden."
Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen kultureller Teilhabe und Gesundheit?
"Ja, ich habe ein Beispiel, das mich zu Tränen gerührt hat: Eine Frau bekam für sich und ihren Bruder, der an einer psychischen Erkrankung litt und kein Deutschmuttersprachler war, zwei Theaterkarten. Auf der Bühne hatte einer der Protagonisten ebenfalls eine schwere psychische Erkrankung. Dieser Schwerpunkt war aber im Titel nicht erkenntlich. Nun saß diese Frau mit ihrem Bruder in diesem Stück und bekam Angst, dass es ihrem Bruder vielleicht nicht guttun würde. Der junge Mann war damals völlig isoliert und zurückgezogen und sie froh, dass er mal mit ihr ins Theater ging. Völlig unerwartet entschloss sich der Bruder danach, sich therapeutisch umzuorientieren, um sich helfen zu lassen. Die Frau ist mittlerweile eine treue, ehrenamtliche Mitarbeiterin geworden - aus Dankbarkeit.
Isolation tut Menschen nicht gut und ich denke andersherum tut Kultur gut. Menschen sind nicht allein, bekommen einen Input und fangen an zu reflektieren. Was dann im Inneren eines Menschen passiert, kann ich nicht sagen. Ich kann nur sagen, dass jeder, der in ein Konzert geht, anders aus diesem Konzert herauskommt. Da passiert irgendwas."
Wie sind Sie als Gründerin des Vereins KulturLeben Berlin e. V. auf die Idee gekommen, Menschen in schwieriger sozialer Lage Zugang zu kulturellen Angeboten zu ermöglichen?
"Wir haben in Berlin die Situation, dass kulturelle Angebote vor allem durch Touristen genutzt werden. Darüber freuen wir uns natürlich. Ich verstehe aber ein Theater oder ein Konzerthaus auch als eine Art Bildungseinrichtung. 2009 habe ich eine Kultur-Journalistin auf einer Fachtagung kennengelernt, die ähnliches im Raum Hessen bereits umsetzte. Ich habe ihr gesagt, dass ich mir das für Berlin, die Hauptstadt, die „Hartz-VI-City“, die Kulturhauptstadt sehr gut vorstellen könnte. Sie hat nicht lockergelassen und mich unterstützt, genauso wie meine Familie, KulturLeben Berlin e. V. zu gründen. Für mich steht fest, dass die Höhe des Einkommens die Bildungsmöglichkeiten beeinflusst. Es gibt zwar Ausnahmen, aber ich möchte nicht auf die Ausnahmen setzen, deswegen habe ich KulturLeben Berlin e. V. gegründet.
Als Theaterleiterin, Direktorin oder Konzerthausdirektorin möchte ich eine Zielgruppe erreichen, die meistens theateraffin oder musikalisch ist. Ich möchte deren Kinder erreichen, damit auch der Nachwuchs garantiert ist. Aber was es bedeutet, die Zielgruppe zu erweitern, konkret mit Menschen ins Gespräch zu gehen, das kennt der Kulturbereich in der Form nicht. KulturLeben Berlin e. V. ist eine charmante und sehr persönliche Ergänzung. Kulturelle Angebote sollen hervorgehoben, miteinander vernetzt werden und damit nahbarer sein für jene, die nicht über ein Radiointerview bei RBB-Kultur, einen Flyer oder eine E-Mail erreicht werden. Es gibt viele Faktoren, warum es so viele Menschen gibt, die kein Kulturnutzungsveralten aufweisen können und das ist nicht nur deren Schuld."
Was unternehmen Sie, um genau diese Zielgruppe zu erreichen?
"Wir arbeiten vor allem auf freiwilliger Basis. Menschen, die über geringe Einkünfte verfügen, sind aus unserer Perspektive eigentlich leicht zu erreichen, da sie eine relativ starke Stigmatisierung in Deutschland erfahren. Wir sind vor Ort, z. B. bei den Lebensmittelausgabestellen. Wir sprechen die Menschen an und fragen sie direkt, ob sie Interesse haben, in ein Konzert zu gehen.
Für ein Theater ist es häufig schwierig, Besucher zu finden. Für uns ist es auch nicht einfach, aber wenn jemand aus unserem Team sagt: „Das ist total schön, mal ins Konzert zu gehen, auch für dich sind die Philharmonie und das Deutsche Theater da, du musst keine Angst vor dem roten Teppich haben, du bist herzlich eingeladen, du bist unser Gast.“. Das sorgt für Neugier und im besten Fall für Vertrauen, aber vor allem für neue persönliche Erfahrungen. Wir sind da, um durch persönlichen Beziehungsaufbau diese Erfahrungen zu ermöglichen. Uns gelingt es, dass Menschen mit niedrigem Einkommen in die Gemäldegalerie gehen. Obwohl der Eintritt ohnehin kostenlos ist, gehen diese Menschen oftmals nicht dorthin.
Berichten Sie von Ihren Erfahrungen bei der Vermittlung von Kulturangeboten an Menschen mit niedrigen Einkommen.
Wir müssen differenzieren, zwischen unseren Helferinnen und Helfer, die vor Ort sind und Menschen einladen, sich bei uns als Gast zu registrieren und jene, die mit einem bereits registrierten Gast telefonieren und Kultur vermitteln.
Die ersten Fragen sind immer: „Kostet das was, gilt das nur für mich oder kann ich jemanden mitnehmen?“ Dann sagen wir: „Sie dürfen jemanden mitnehmen und es ist für Sie beide kostenfrei“. Denn natürlich ist es viel schöner, mit einem Freund oder einer Freundin oder wen auch immer zusammen zu gehen, aber wir schreiben nicht vor, wer mitgebracht werden darf. Die zweite Person muss nicht „bedürftig“ sein, ist sie aber häufig, gerade wenn es um Altersarmut geht. Aber es kann eben auch die Nachbarin sein, bei der man sich für ihre Unterstützung bedanken möchte.
Unsere Erfahrungen zeigen, dass Armut auch „klein“ macht und dann sind unsere Freiwilligen aufgefordert, diese Menschen zu stärken und ihnen Mut zu machen, Kultur für sich zu entdecken, trotz der Befürchtungen, nichts Passendes zum Anziehen zu haben oder etwas nicht zu verstehen.
Bei der Vermittlung am Telefon vermitteln wir den Interessierten, dass sie mutig und neugierig sein können und keine Angst haben müssen. Sie haben die Möglichkeit, uns während unserer Sprechzeiten von montags bis freitags zwischen 9.00 Uhr und 18.00 Uhr anzurufen oder wir rufen sie an und laden sie ein. Das ist keine „Einbahnstraße“. Alle vier bis sechs Wochen haben sie die Möglichkeit, entsprechend ihrer Interessensschwerpunkte, die sie uns zuvor mitgeteilt haben, zu einer Veranstaltung zu gehen. Haben sie zu den von uns vorgeschlagenen Terminen keine Zeit, suchen wir in unserer Datenbank nach anderen Veranstaltungen. Und auf einmal unterhalten wir uns über Kultur am Telefon und ihre Interessen. Das sind häufig sehr schöne Gespräche."
Wie gelingt es Ihnen Kooperationspartner zu gewinnen und was macht für Sie eine gute Kooperation aus?
"In einer guten Kooperation kann man sich auf seinen Kooperationspartner verlassen. Es ist transparente Kommunikation auf Augenhöhe."
Wie schaffen Sie das?
"Wenn eine soziale Einrichtung mit uns kooperieren möchten, da diese zu einer bestimmten Zielgruppe Kontakt hat, die unseren Zielgruppen entsprechen, müssen zwei Dokumente ausgefüllte werden, aus denen hervorgeht, um was für eine Einrichtung es sich handelt, z. B. eine Einrichtung der Obdachlosenhilfe, einer Einrichtung der Behinderten -oder Seniorenhilfe. Eine weitere Bedingung ist, dass die Einrichtung Mitglied bei KulturLeben Berlin e. V. und folglich in unserer Datenbank abgebildet wird - wir sind ihr Ihr „Steigbügelhalter“ zur Inklusion sozusagen. Anschließend führen wir Gespräche mit den Mitarbeitenden aus den sozialen Einrichtungen, die unsere Kulturansprechpersonen werden. Wir sensibilisieren sie über die Bedeutung gesellschaftlicher Teilhabe über Kultur. Wir halten unsere Kooperationen lebendig, denn wir wollen gezielt kulturelle Veranstaltungen für neue Zielgruppe öffnen - und andersherum.
Mit jedem Kulturpartner werden individuelle Vereinbarungen getroffen. Bedingung ist immer, dass dies für uns unentgeltlich ist, da die meisten Veranstaltung in der Regel nicht ausverkauft sind. Das wünscht man sich zwar als Kulturschaffender, aber das ist utopisch in einer Stadt wie Berlin. Die Kulturpartner wissen, dass KulturLeben Berlin e. V. Menschen erreicht, die sie selbst sonst nicht erreichen würden, auch wenn es nach wie vor die Einrichtungen gibt, bei denen wir erst das Bewusstsein dafür schaffen müssen."
Was geben Sie denen mit die ähnliches planen?
"Kulturelle und gesellschaftliche Teilhabe ist ein ganz wichtiges Querschnittsthema, das an Bedeutung zunehmen wird, genauso wie Gesundheitsförderung. Ich würde allen raten, diese Querschnittsthemen wirklich interdisziplinär zu denken und keine Angst davor zu haben. In unserer Gesellschaft ist es so wichtig, Menschen, denen es schlechter geht, Freude zu schenken."