20.11.2012
Man muss gemeinsam lernen
Interview mit Reinhart Wolff
Reinhart Wolff, Kronberger Kreis für Dialogische Qualitätsentwicklung e.V. & Siegfried-Bernfeld-Institut für Praxisforschung und Qualitätsentwicklung
Schlagwörter:Armut, Eltern, Familie, Frühe Hilfen, Jugendhilfe, Kommunen, Netzwerk, Präventionsketten, Qualitätsentwicklung, Sozialraum
Wo sehen Sie die wesentlichen Beiträge der Gesundheitsförderung für die Arbeit des Jugendbereichs in den Frühen Hilfen?
Prof. Reinhart Wolff ist Erziehungswissenschaftler und Soziologe, vor seiner Emeritierung lehrte er an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin. Er begleitete das Jugendamt Dormagen beim Aufbau ressortübergreifenden Unterstützungsangebote für junge Familien und ist Mitglied im Kronberger Kreis für dialogische Qualitätsentwicklung.
Moderne Hilfen für arme Familien haben schon vor 100 Jahren mit der Entwicklung der Kleinkind- und Familienfürsorge begonnen, aus der sich dann später das System der Jugendhilfe und der sozialen Arbeit entwickelt hat. In den 70er und 80er Jahren sind im Zuge des Umbaus des modernen Wohlfahrtsstaates die staatlichen Leistungen in diesem Sektor der frühen Unterstützungsangebote sehr stark eingeschränkt worden. Das hat natürlich eine Lücke in der Versorgung von jungen Familien mit kleinen Kindern gerissen, die Unterstützung brauchen.
Jetzt stehen wir vor einem Dilemma: Wir haben neu entdeckt dass es wichtig wäre, früh mit Unterstützung anzusetzen. Aber nun stellen wir fest, dass es an wichtigen Einrichtungen fehlt. Und an der Vernetzung der verschiedenen bestehenden Initiativen. Deshalb wäre meine These: Man muss diesen Bereich wieder systematisch ausbauen. Und sowohl den Bereich der Kliniken und Arztpraxen verbinden mit den frühen Fördereinrichtungen, den Beratungsstellen und den allgemeinen sozialen Diensten.
Was bedeutet dies für die Gestaltung der Unterstützungsarbeit vor Ort?
Die benachteiligten Familien zu erreichen hieße: Diese Familien überhaupt erst einmal im Umfeld zu treffen und sie kennen zu lernen und ihnen eine solidarische Unterstützung anzubieten. Dazu gibt es ja inzwischen eine ganze Anzahl von Projekten, in denen soziale und gesundheitliche Dienste auf diese Familien zugehen und sie darüber informieren, was es im System der kommunalen Unterstützungsleistungen gibt. Das zweite ist natürlich, dass die Jugendhilfe sich öffnen und die Bedeutung der gesundheitlichen Förderung wieder entdecken muss. Denn wir wissen, dass die gesundheitliche Beeinträchtigung gerade marginalisierter Eltern außerordentlich prekär ist.
Dies hat ja schon der 13. Kinder- und Jugendbericht 2009 thematisiert. Trifft es Ihrer Erfahrung nach auf offene Ohren im Jugendbereich wenn es heißt: Gesundheit ist auch wichtig?
Der 13. Kinder- und Jugendbericht ist einer der wichtigsten Jugendberichte der vergangenen Jahre. Er ist leider nicht besonders intensiv gelesen und aufgenommen worden. Aber die These des Berichtes ist natürlich richtig: Dass es einen Zusammenhang zwischen den sozialen Lebenslagen und der gesundheitlichen Situation von benachteiligten Menschen gibt und dass man deswegen diese im Laufe des letzten Jahrhunderts hoch differenzierten Berufssysteme wieder mehr zusammenbringt.
Ich würde mal optimistisch sagen, mit der Unterstützung des Nationalen Zentrum Frühe Hilfen und einiger Initiativen in den Ländern ist doch eine Bewegung in Gang gekommen, so dass die Systeme aufeinander zugehen. Aber gerade wenn wir schwere Kinderschutzfälle ansehen, fällt immer wieder auf, dass es nicht zu einer tragfähigen Kooperation zwischen gesundheitlichen und sozialen Diensten kommt und beide aneinander vorbei arbeiten.
Was sind denn aus Ihrer Erfahrung die wichtigsten Schritte für eine Kommune, die sich stärker in diese Richtung integrierter Unterstützungssysteme entwickeln möchte?
Das bedeutet für viele professionelle Akteure einen Paradigmenwechsel, oder?
Das bedeutet, dass man Familien, Eltern, Kinder nicht symptomorientiert vermisst und irgendwelche äußerlichen Feststellungen trifft, sondern dass man sich mit den Betroffenen hinsetzt und erstmal die Lage anguckt. Und dann unkonventionell und kreativ Hilfepläne entwickelt, die vor allem unterschiedliche Hilfeformen miteinander kombinieren. Das können ganz praktische Alltagshilfen ebenso sein wie Beratungen.