08.11.2022
Medizinstudierende fordern gesundes, nachhaltiges und soziales Ernährungssystem
Lina Jahn, Wissenshunger
Schlagwörter:Ernährung, Klimawandel
Medizinstudierende fordern gesundes, nachhaltiges und soziales Ernährungssystem
Vor mehr als einem Jahr hat die Bundesvertretung der Medizinstudierenden Deutschlands (bvmd) ein Positionspapier veröffentlicht, in dem sie eine Ernährungswende fordert, die die Gesundheit, das Klima, die soziale Gerechtigkeit und das Tierwohl weltweit verbessern soll. Auch wenn diese vier Ziele auf den ersten Blick sehr ambitioniert wirken mögen, so sind sich sämtliche Studien und Richtlinien einig, dass eine Ernährung, die überwiegend auf Pflanzen basiert und nur wenig tierische, salz- und zuckerhaltige Produkte enthält, Gesundheit, Klima und Tierwohl zu Gute kommt.
Um den Zugang zu gesunder Ernährung für alle Gesellschaftsmitglieder zu ermöglichen, spricht sich die bvmd für verschiedene verhaltens-, aber insbesondere auch verhältnispräventive Maßnahmen aus, wie etwa eine Neustrukturierung der Lebensmittelbesteuerung, Labeling oder bessere Ernährungsbildung.
Ernährung und aktuelle Krisen
Herbst 2020: Die COVID-19-Pandemie geht in eine neue “Welle” und das Jahr, das zum bis dahin zweitwärmsten Deutschlands werden soll, neigt sich dem Ende zu [1]. Eine Gruppe von Medizinstudierenden aus ganz Deutschland beschließt, ein Positionspapier zu schreiben, in dem sie diese Krisen in einen Zusammenhang mit dem globalen Ernährungssystems stellen will. Denn gerade in unserer komplexen Welt ist es wichtig, die multiplen Auswirkungen der Ernährung zu verstehen:
Beispielsweise bedingt die Ausweitung landwirtschaftlicher Nutzflächen das Vordringen in Ökosysteme, hoher Fleischkonsum vermehrt Kontakte zwischen Tier und Mensch und erhöht die Übertragung von Zoonosen wie COVID-19.
Zum anderen führt intensive Landwirtschaft, insbesondere Nutztierhaltung, durch hohe Treibhausgasemissionen und Ressourcenverbräuche zur Überschreitung der planetaren Grenzen wie Klimawandel oder Biodiversitätsverlust. Der Klimawandel wiederum gefährdet durch Hitze- und Dürreperioden die globale Ernährungssicherheit, aber auch die Gesundheit der Weltbevölkerung.
Herbst 2022: Auch zwei Jahre später zeigen aktuelle Entwicklungen, wie Ernährung, Gesundheit und Klima zusammenhängen.
Bei den extremen Fluten in Pakistan im Juni 2022 etwa führten die Überschwemmungen landwirtschaftlicher Nutzflächen und der Verlust tausender Nutztiere Millionen Menschen in eine unsichere Ernährungslage. Gleichzeitig gefährdet der Verlust medizinischer Infrastruktur und Medikamentenknappheit die Gesundheit der Menschen vor Ort [2].
In Deutschland machte sich der vergangene Sommer als sonnigster und sechst-trockenster seit Aufzeichnungsbeginn teilweise in den Ernteerträgen bemerkbar [3]. Nennenswert sind auch die vom Robert Koch-Institut geschätzten 4.500 Hitzetoten im Sommer 2022 [4].
Angesichts dieser Krisen fordern die Medizinstudierenden ein Ernährungssystem, das auf globaler Ebene Ernährungssicherheit gewährleistet und den Klimawandel nicht weiter antreibt.
Dabei steht primär die Reduktion der Fleischproduktion im Fokus, sodass mehr landwirtschaftliche Flächen für pflanzliche Lebensmittel zur Verfügung stehen. Diese benötigen, gemessen an der Kalorienzahl, weniger Fläche und können somit die Erschließung neuer Agrarflächen weltweit reduzieren. Auch eine Reduktion der Lebensmittelverschwendung muss zu dieser Entwicklung beitragen.
Ernährung und Gesundheit
Die gesundheitlichen Probleme der weltweiten Mangelernährung auf der einen und der Übergewichtigkeit auf der anderen Seite werden von den Studierenden als weitere ernährungsbedingte Krise angeführt.
Die Global Burden of Disease Study zeigte, dass im Jahr 2017 elf Millionen Todesfälle und 255 Millionen verlorene gesunde Lebensjahre auf ungesunde Ernährung bzw. ernährungsbedingte Risikofaktoren zurückzuführen waren. Dies zeigt sich auch am Anstieg von sogenannten nicht-übertragbaren Erkrankungen (noncommunicable diseases, NCDs) wie Diabetes Mellitus oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen [5].
Auch Deutschland ist von dieser Gesundheitskrise nicht verschont: Zwei Drittel aller Deutschen sind übergewichtig, mehr als ein Fünftel adipös [6], wobei das Adipositasrisiko für Menschen mit niedrigem Einkommen höher ist [7].
Angesichts der Relevanz ernährungsbedingter Krankheiten fordern die Medizinstudierenden eine gesunde Ernährungsumgebung, bei der die gesündeste Entscheidung auch immer die einfachste sein muss und nicht vom Einkommen abhängen darf.
Forderungen im Positionspapier “Ernährung und Gesundheit”
Die Medizinstudierenden fordern sowohl wirtschafts- als auch bildungspolitische Maßnahmen, die nach dem Prinzip der Chancengleichheit alle Konsument*innen gleichermaßen vor den gesundheitlichen Folgen ungesunder Ernährung schützen sollen [8]:
Wirtschaftspolitische Maßnahmen
1. Eine Umstrukturierung des Mehrwertsteuersystems, bei dem tierische Produkte höher und Obst bzw. Gemüse niedriger oder überhaupt nicht besteuert werden, soll effektiv finanzielle Anreize schaffen.
2. Ein umfassendes, gesetzliches Verbot von Kindermarketing für ungesunde Lebensmittel stellt eine einfache Maßnahme dar, um bei Kindern und Jugendlichen den Konsum von sogenannten HFSS- Produkten (high in fat, sugar or salt) zu senken.
3. Eine „verpflichtende Einführung des Nutri-Scores oder eines vergleichbar effizienten und anwendungsfreundlichen Ampelsystems auf nationaler und EU-weiter Ebene“ (Quelle 6, Zeile 532-534) ist unabdingbar, um Produkte hinsichtlich ihrer Nährwerte einheitlich und aussagekräftig zu labeln. Ein einheitliches Klimalabel soll zudem eine nachhaltige Konsument*innenentscheidung erleichtern.
Bildungspolitische Maßnahmen
Bezüglich der Bildungspolitik appellieren die Studierenden sowohl an bessere Angebote für die Allgemeinbevölkerung, aber auch für Kinder in Kitas und Schulen und in der Ausbildung medizinischer Berufe.
Ernährung im Medizinstudium
Damit zukünftige Mediziner*innen das volle Potential gesunder Ernährung freisetzen und für die Verbesserung der Gesundheit aller Menschen nutzen können, muss Ernährung als therapeutische und gesundheitsfördernde Maßnahme bereits im Medizinstudium interdisziplinär gelehrt, geübt und angewendet werden.
Im Medizinstudium soll darum das Thema Ernährung stärker in den Nationalen kompetenzbasierten Lernzielkatalog Medizin (NKLM) und den Gegenstandskatalog (GK) integriert und die interprofessionelle Ausbildung und Zusammenarbeit zwischen Mediziner*innen, Diätassistent*innen und dem Pflegepersonal ausgebaut werden.
Gemeinschaftsverpflegung
Weil gesunde Ernährung nicht nur den Genesungsprozess fördern, sondern auch die Entstehung von Krankheiten verhindern kann, soll schließlich in Gemeinschaftseinrichtungen wie Kliniken, Rehabilitationszentren, Senior*inneneinrichtungen, Kindergärten, Schulen aber auch betrieblichen Kantinen die Verpflegung mindestens den Standards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) entsprechen.
Ausblick
Primärprävention
Seit 2016 setzt sich das studentische Projekt “Wissenshunger” der bvmd zum Ziel, Schüler*innen im Rahmen der Primärprävention gesunde Ernährung in Schulbesuchen zu erklären und beim gemeinsamen Kochen schmackhaft zu machen [9]. Auch wenn diese Arbeit viel Spaß macht, wäre es wünschenswert, wenn gesunde, nachhaltige Ernährung lehrplanmäßig in allen Schulen gelehrt und gelebt würde.
Politik
Die bvmd freut sich, seit Herbst 2021 ein Teil des Bündnisses „Ernährungswende anpacken“ zu sein, in dem mehr als 20 Gesundheits-, Umwelt- und Sozial-Verbände eine nachhaltige, gesunde, sozial gerechte und dem Tierwohl zuträgliche Ernährungswende bis 2023 fordern [10].
Studium/Ausbildung
Des Weiteren ist die bvmd im Austausch mit der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM), um das Thema Ernährung stärker in die Theorie und Praxis des Medizinstudiums zu integrieren.
Eine Reformierung des Ernährungssystems ist chancenreich, aber auch komplex.
Als Medizinstudierende wollen wir auch unseren Beitrag dazu leisten und uns dort einbringen, wo wir die meiste Expertise besitzen. Darum will sich die bvmd in Zukunft auf eine bessere und nachhaltigere Ernährungsbildung im Studium fokussieren, damit angehende Ärzt*innen die therapeutischen und gesundheitsförderlichen Chancen von Ernährung nutzen können.
Hier können Sie sich das Positionspapier “Ernährung und Gesundheit” (bvmd, 2021) herunterladen.
Quellen
1) Deutscher Wetterdienst (07.01.2021): Klimatologischer Rückblick auf 2020: Eines der wärmsten Jahre in Deutschland und Ende des bisher wärmsten Jahrzehnts.
Wetter und Klima - Deutscher Wetterdienst - Leistungen - Klimatologischer Rückblick auf 2020: Eines der wärmsten Jahre in Deutschland und Ende des bisher wärmsten Jahrzehnts (dwd.de)
2) United Nations in Pakistan (30.08.2022): Pakistan 2022 Floods Response Plan
https://pakistan.un.org/en/197498-pakistan-2022-floods-response-plan
3) Fiedler, M. (23.08.2022): Erntebilanz 2022: Zwischen Dürreschäden und Rekordernten. tagesschau.de
https://www.tagesschau.de/wirtschaft/unternehmen/landwirtschaft-erntebilanz-bauern-duerre-101.html
4) Winklmayr C., an der Heiden M. (20.10.2022): Hitzebedingte Mortalität in Deutschland 2022
https://edoc.rki.de/handle/176904/10346?locale-attribute=en
5) The Lancet (03.04.2019): Health effects of dietary risks in 195 countries, 1990–2017: A systematic analysis for the Global Burden of Disease Study 2017; Pages 1958-1972
https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(19)30041-8/fulltext
6) Schienkiewitz A.,Mensink G., Kuhnert R., Lange C. (2017): Journal of Health Monitoring ·- Übergewicht und Adipositas bei Erwachsenen in Deutschland
https://edoc.rki.de/handle/176904/2655
7) WHO (21.01.2016): Report of the Commission on Ending Childhood Obesity
https://www.who.int/publications/i/item/9789241510066 S.18
8) Bundesvertretung der Medizinstudierenden Deutschlands (03.07.2021): Positionspapier Ernährung und Gesundheit
https://www.bvmd.de/wp-content/uploads/2022/04/Grundsatzentscheidung_2021_06_Positionspapier_Ernaehrung_und_Gesundheit.pdf
9) Wissenshunger - BVMD Public Health Project
http://wissenshunger-deutschland.com/
10) KLUG – Deutsche Allianz Klimawandel und Gesundheit (29.10.2021): Ernährungswende jetzt anpacken!
https://www.klimawandel-gesundheit.de/ernaehrungswende-jetzt-anpacken/