22.05.2017
"Mit den kleinen Dingen anfangen und nicht den Mut verlieren!"
Markus Runge berichtet über das Netzwerk "Für mehr Teilhabe älterer Menschen in Kreuzberg"
Geschäftsstelle Kooperationsverbund Gesundheitliche Chancengleichheit
Markus Runge, Nachbarschaftshaus Urbanstraße e. V.
Schlagwörter:Netzwerk, Teilhabe, Ältere
Markus Runge ist stellvertretender Geschäftsführer des Nachbarschaftshauses Urbanstraße e. V. und initiierte mit Sabine Schweele vom Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg die Gründung des Netzwerkes im Jahr 2013. Im folgenden Interview erfahren Sie, warum der Freitagnachmittag für manche ältere Kreuzberginnen und Kreuzberger so besonders ist, was es mit den Roten Bänken auf sich hat und was das alles mit solidarischen Nachbarschaften zu tun hat. Mit Markus Runge sprach Maria-Theresia Nicolai, Gesundheit Berlin-Brandenburg.
Im Mai 2017 wurde das Netzwerk „Für mehr Teilhabe älterer Menschen in Kreuzberg“ mit dem Label Good Practice ausgezeichnet.
Ausgezeichnet wurde das Netzwerk für seine Arbeit,
- mittels kreativer Zugangswege niedrigschwellige Teilhabeförderung aufzubauen (Niedrigschwellige Arbeitsweise),
- entscheidende Impulse im Rahmen eines ganzheitlichen Vorgehen zur Verbesserung der Lebensbedingungen zu setzen (Setting-Ansatz),
- nachhaltige Netzwerkstrukturen unter Beteiligung vielfältiger Akteurinnen und Akteure auf- und auszubauen (Nachhaltigkeit),
- Multiplikatorinnen und Multiplikatoren aus der Nachbarschaft systematisch in die Arbeit des Netzwerks mit einzubeziehen und zu qualifizieren (Multiplikatorenkonzept).
Weitere Informationen zur Projektbeschreibung erhalten Sie hier.
Wie ist das Netzwerk „Für mehr Teilhabe älterer Menschen in Kreuzberg“ entstanden?
Schon seit Jahrzehnten haben wir hier im Nachbarschaftshaus Urbanstraße e. V. ein relativ breites Angebot für ältere Menschen. Es reicht von Gymnastikgruppen über Singkreise und Seniorenfrühstücke bis hin zu Schreibwerkstätten. Wie sind stetig mit den älteren Menschen im Gespräch, um zu klären, was ihre Anliegen sind, ob bestehende Angebote für sie interessant sind oder wir selbst etwas Neues mit ihnen entwickeln müssen. Ein weiterer Bereich ist die Beratung, die in unserem „offenen Büro“ in Anspruch genommen werden kann. Es sind Beratungsanliegen rund um das Thema „Älterwerden“. Danach vermitteln wir bspw. an Pflegestützpunkte, Kontaktstellen PflegeEngagement oder an Rentenversicherungsträger.
Neben den Komm-Angeboten haben wir zum Beispiel auch ein mobiles Seniorenbus-Projekt. Immer freitags holen wir ältere Menschen mit starken Mobilitätseinschränkungen aus ihren Wohnungen ab und verbringen mit ihnen einen gemeinsamen Nachmittag: Kaffeetrinken, Gedächtnistraining, Gymnastik, Ausflüge oder Dampferfahrten gehören zum Programm. Das sind tatsächlich Menschen, die selten allein ihre eigenen vier Wände verlassen können und auf diese Freitagnachmittage warten. Es ist eine Freude zu sehen, dass wir Momente schaffen, in denen sie all ihre Sorgen, all ihre Alltagsgeschichten lassen können. Sie gehen dann gestärkt ins Wochenende und in die neue Woche.
Aus unseren Erfahrungen im Nachbarschaftshaus Urbanstraße sowie durch die Zunahme älterer Menschen in Armut in Kreuzberg ist für uns in den letzten Jahren die Frage aufgekommen: „Wie organisieren wir Teilhabe in einer Gesellschaft, in der soziale und kulturelle Teilhabe aufgrund eingeschränkter finanzieller Ressourcen nicht mehr möglich ist oder abnimmt?“ Ausgehend von dieser Situation haben wir 2013 begonnen, Netzwerke „Für mehr Teilhabe älterer Menschen in Kreuzberg“ aufzubauen.
Was ist das Anliegen Ihres Netzwerkes und wie verfolgen Sie dieses?
Im Rahmen einer größeren Auftaktveranstaltung im Juni 2013 wurde der Beschluss gefasst, ein gemeinsames Vorgehen zur gemeinwesenorientierten Teilhabeförderung zu entwickeln. Dies soll durch eine stärkere Vernetzung und daraus resultierenden gemeinsamen Aktivitäten gelingen. Die Koordination des Netzwerkes übernimmt seither das Nachbarschaftshaus Urbanstraße.
Ein Ziel unserer Netzwerkarbeit ist es, Anonymität zu verringern und die Identifikation aller Beteiligten mit dem Stadtteil zu verstärken. Speziell älteren Menschen in Altersarmut, alleinstehenden älteren Menschen und älteren Menschen mit Migrationshintergrund wollen wir längerfristig soziale Kontakte über nachbarschaftliche Unterstützung ermöglichen. Weiterhin möchten wir Freiwillige über ihr Engagement für nachbarschaftliche Kontakte Anlässe individueller Verortung bieten. Nach unserem Verständnis entstehen daraus „solidarische Nachbarschaften“. Unsere Vision ist es, dass jeder älterer Mensch in Kreuzberg die Möglichkeit zur sozialen und kulturellen Teilhabe bekommt.
Im Netzwerk „Für mehr Teilhabe älterer Menschen in Kreuzberg“ sind unter anderen die bezirkliche Verwaltung, Einrichtungen der Stadtteilarbeit (Mehrgenerationenhaus Wassertor, Mehrgenerationenhaus Gneisenaustraße, Gemeinwesenarbeit des Nachbarschaftshauses) sowie Beratungs- und Koordinierungsstellen (Kontaktstelle Pflegeengagement, Pflegestützpunkt, Freiwilligenagentur) vertreten. Dabei sind auch Nachbarschaftsinitiativen involviert: Menschen, die sich im Stadtteil engagieren und über gute Zugänge in den Stadtteil verfügen. Gemeinsam strebt das Netzwerk eine noch stärkere Vernetzung mit Arztpraxen, Apotheken, Physiotherapien und Sozialkommissionen an.
Ein zentrales Anliegen beim Aufbau unserer Netzwerkarbeit ist der Zugang zu älteren Menschen. Wir verfolgen vier Strategien, uns Zugangswege zu eröffnen:
- Der erste Weg geht über die Multiplikatorenebene. Multiplikatorinnen und Multiplikatoren sind oftmals näher dran, kennen die Personen mit ihren Namen und Geschichten und sollten im Grunde auch diejenigen sein, die die Zielgruppe zuerst ansprechen.
- Die zweite Strategie ist, über die Nachbarschaft zu gehen. Das setzen wir in Form einer Kampagne „Ziemlich beste Nachbarn - Dank Dir“ um. Dabei geht es darum, die Menschen über eine verstärkte Öffentlichkeitsarbeit, wie bspw. Plakate und Postkarten, anzusprechen und dafür zu sensibilisieren, ob sie mit älteren Nachbarinnen und Nachbarn in Kontakt stehen, denen sie Unterstützung anbieten können.
- Drittens haben wir begonnen, einzelnen Jahrgängen ab dem 63. Lebensjahr aufwärts Briefe mit Informationen zur Angebotslandschaft in ihrer Nachbarschaft zu schicken. Gleichzeitig laden wir sie auch zu einer Veranstaltung mit all den Netzwerkpartnerinnen und -partnern ein, um diese Menschen ausführlicher zu informieren.
- Als Viertes bieten wir mobile Angebote an. Wir organisieren Kiezspaziergänge zum Thema „Älterwerden im Kiez“ und laden interessierte Bewohnerinnen und Bewohner ein, mit uns ihren Kiez unter die Lupe zu nehmen. Oder wir sprechen ältere Menschen auf öffentlichen Plätzen und in Parks an. Um Sprachbarrieren abzubauen, haben wir meist Kolleginnen und Kollegen dabei, die türkisch oder arabisch sprechen. Wir gehen direkt auf die Menschen zu. Wir sammeln so Themen, die die Menschen umtreiben.
Was unternehmen Sie, um die Lebensbedingungen für ältere Menschen in Kreuzberg nachhaltig zu verbessern?
Bislang sind wir im Netzwerk ja eher dran, längerfristig Zugänge zu vielen älteren Menschen zu entwickeln. Denn erst, wenn wir über die Zugänge verfügen, wissen wir, was die älteren Menschen wollen, können wir mit ihnen ihre Lebensbedingungen nachhaltig verbessern.
Daher sind unsere konkreten Schritte zur Verbesserung der Lebensbedingungen bislang eher noch klein:
- Für eine kleine Gruppe älterer mobilitätseingeschränkter Menschen organisieren wir seit einem Jahr einen regelmäßigen Kreuzberger Kaffeeklatsch und gestalten ihnen zweimal im Monat an wechselnden Orten bunte Veranstaltungen.
- Im vergangenen Jahr haben wir Menschen aus Kreuzberg über vier Fortbildungen qualifiziert, die Bewegungsförderung älterer Menschen im 1:1 Kontakt zu stärken.
- Über mehrere Kiezspaziergänge haben wir tatsächlich konkrete Lebensbedingungen verbessert. So wurden im Chamisso-Kiez zum Beispiel Bordsteine abgesenkt.
- Aus dem Netzwerk heraus wurde angestoßen, eine Begegnungsstätte in ein Mehrgenerationenhaus zu wandeln, und damit einen lebendigen Treffpunkt im Stadtteil zu entwickeln, der vielen - auch älteren - Menschen Teilhabe ermöglicht.
- Auch die Infoveranstaltungen für ältere Menschen sind ein konkreter Schritt, wir zeigen darüber Möglichkeiten der Beratung und Unterstützung aber auch der sozialen Teilhabe auf.
Ein konkreter Schritt ist es auch, gute Ideen aus dem Stadtteil aufzugreifen und zu unterstützen. So gibt es im Chamissokiez ein Projektvorhaben „Rote Bank“, um dessen Umsetzung wir uns bemühen.
Die Idee der Bewohnerinnen und Bewohnern ist es, Gewerbetreibende davon zu überzeugen, im Sommer immer einen Tisch mit roten Stühlen einzurichten, an den sich ältere Menschen setzen können, ohne gleich etwas kaufen zu müssen. Für sie sind die Wege oft sehr lang, weil es zu wenig Bänke gibt. Durch die Einrichtung „Rote Bänke“ können niedrigschwellige Begegnungsorte entstehen, an denen Menschen miteinander ins Gespräch kommen und Teilhabe erleben.
Die Mitglieder des Netzwerkes haben sich die Aufgabe gestellt, gesundheitlich förderliche und belastende Rahmenbedingungen in Kreuzberg zu benennen und in der Öffentlichkeit zu thematisieren. Das Netzwerk findet in Kreuzberg mehr und mehr Beachtung und so gibt es auch immer wieder Akteurinnen und Akteure, die im Netzwerk mitarbeiten und die Anliegen des Netzwerkes unterstützen.
Was, denken Sie, ist somit der wichtigste Hinweis, den Sie Anderen mit auf den Weg geben möchten, die ähnliches planen oder umsetzen?
Erstens ist es wichtig, den Leuten zuzuhören und sie ernst zu nehmen. Die besten Ideen sind bis jetzt von außen an uns herangetragen worden.
Zweitens: Trotz der Komplexität der Themen rund um‘s Älterwerden sollten sich die Menschen nicht scheuen, einfach anzufangen. Bei dem Netzwerk „Für mehr Teilhabe Älterer“ - wo fängt man da an? Gesundheitliche Versorgung, Nachbarschaft, Wohnen, Mobilität oder Barrierefreiheit im Stadtteil? Das sind alles so riesige Themen, die zunächst den Eindruck vermitteln, sie seien nicht zu bewältigen. Einfach mit kleinen Dingen anfangen und nicht den Mut verlieren! Wichtig sind nicht immer die großen Konzepte, es hat ganz viel mit unserer eigenen Haltung zu tun!
Herzlichen Dank für das Gespräch!