20.08.2018
Muttersprachliche psychosoziale Beratung von Geflüchteten für Geflüchtete
Ein niederschwelliges Modellprojekt des Krankenhauses St. Josef, Schweinfurt und Ärzte ohne Grenzen, Deutschland.
Alexandra Blattner, Ambulanz für seelische Gesundheit St. Josef; Aufnahmeeinrichtung Schweinfurt
Hannah Zanker, Ambulanz für seelische Gesundheit St. Josef; Aufnahmeeinrichtung Schweinfurt
Schlagwörter:Geflüchtete, Gesundheitsversorgung, psychische Gesundheit
Problemlage und Versorgungssituation
Es ist weithin bekannt, dass Geflüchtete psychisch besonders vulnerabel sind. Aus prekären Bedingungen in den jeweiligen Heimatländern, den Erlebnissen während der Flucht sowie widrigen Lebensumständen und fehlenden Zukunftsperspektiven im Aufnahmeland können immense psychische Belastungen resultieren. Diese sind meist eher eine „normale“ Reaktion auf extreme Erlebnisse und Lebenssituationen. Gleichzeitig konstatiert die WHO sehr deutlich: “There is no health without mental health”.
In den Herkunftsländern vieler Geflüchteter gibt es keinerlei psychosoziale Versorgung, entsprechend fehlt ihnen oft ein Krankheitsverständnis. Zudem werden sie nach ihrer Ankunft nicht über die psychosozialen, psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgungssysteme in Deutschland informiert und zeigen bei psychischer Belastung häufig vor allem körperliche Symptome, mit denen sie sich zunächst an eine Allgemeinärztin oder einen Allgemeinarzt wenden. Wird die Belastung nicht frühzeitig adressiert, besteht das Risiko chronifizierender Erkrankungen, von Integrationsunfähigkeit oder gar selbst- oder fremdgefährdenden Ausbrüchen.
Die psychosoziale Versorgungssituation von Geflüchteten in Deutschland ist aufgrund individueller und struktureller Barrieren unzureichend. Posttraumatische Belastungsstörungen, Angststörungen, Depressionen oder auch suizidale Krisen bleiben somit häufig unentdeckt und/oder unbehandelt. Bei der Behandlung stellen Sprachbarrieren ein großes Problem dar, zumal die potentiellen Behandler/-innen die kulturell geprägten Konzepte der Klient/-innen von psychischen Leiden oft nicht kennen. Da die Finanzierung von Dolmetscher/-innen häufig nicht gewährleistet ist, können Verständigungsprobleme nicht aufgelöst werden. Im laufenden Asylverfahren sind Geflüchtete zudem allgemeinen Beschränkungen der Gesundheitsversorgung unterworfen. So ergibt sich bei vielen Behandler/-innen eine gewisse Scheu vor Klient/-innen mit Fluchterfahrung, die durch vermutete Traumatisierungen, den Schweregrad der psychischen Belastung sowie durch den hohen zusätzlichen organisatorischen Aufwand (Beantragung von Dolmetscher/-innen, Beantragung der Kostenübernahme von Behandlungen) bedingt ist.
Aus diesen Barrieren resultiert, dass mit den begrenzten Ressourcen der bisherigen, fachlich hochspezialisierten Strukturen keine adäquate Versorgung gewährleistet werden kann. Das innovative Modellprojekt des Krankenhauses St. Josef nach dem Arbeitsansatz von Ärzte ohne Grenzen zeigt einen alternativen, präventiven Weg auf.
Projektbeschreibung
In der „Ambulanz für Seelische Gesundheit St. Josef“ bieten speziell geschulte Geflüchtete im Rahmen des Projektes „SoulTalk“ psychosoziale Beratung für neuangekommene Geflüchtete an - in der Muttersprache und direkt vor Ort in der Schweinfurter Aufnahmeeinrichtung. Zum Team gehören aktuell drei geflüchtete psychosoziale Berater (jew. 75%, eine vierte Stelle ist derzeit ausgeschrieben), zwei Psychologinnen (insg. 125%) und eine psychologische Praktikantin. Die psychosozialen Berater/-innen leben bereits seit einiger Zeit und mit festem Aufenthaltstitel in Deutschland und befinden sich in fester Anstellung am Krankenhaus St. Josef. Sie verfügen teilweise über berufliche Vorerfahrung im sozialen Bereich; noch wichtiger ist jedoch ihre soziale Eignung, wie z.B. ihre Empathiefähigkeit.
Zu Beginn der Tätigkeit wurden die Berater/-innen intensiv durch Ärzte ohne Grenzen geschult und werden nun weiterhin von den Psychologinnen in ihrer Arbeit durch Supervision und Fortbildung unterstützt. Das Projekt existiert seit Februar 2017 und wird seit August 2017 allein vom Krankenhaus St. Josef getragen. Die Projektlaufzeit ist aktuell bis Mai 2019 begrenzt.
Nach einem individuellen ersten Kennenlerngespräch erfahren Geflüchtete in drei Gruppenterminen, was körperliche und psychische Gesundheit ist, welche Hilfen es in Deutschland gibt, was Stressauslöser sind und wie diese mit individuellen Stresssymptomen zusammenhängen (sog. Psychoedukation). Die psychosozialen Beraterinnen und Berater geben konkrete, hilfreiche Strategien im Umgang mit Stress an die Hand, animieren z.B. zu sportlicher Aktivität, Schlafhygiene und aktiver Alltagsgestaltung. In den Gruppen tauschen sich die Klient/-innen über Belastungen und ihren Umgang damit aus. Viele machen hier die erleichternde Erfahrung, dass es anderen ähnlich geht wie ihnen. Sie erkennen, dass ihre teilweise massiven Stresssymptome wie Schlafstörungen, Albträume oder Angstzustände kein Zeichen dafür sind, dass sie „verrückt“ werden, sondern dass diese eine „normale“ Reaktion auf extreme Belastungen darstellen. Wir stärken die Ressourcen der Klient/-innen, was vielen wieder Kraft und Selbstvertrauen gibt. Neben den Gruppen werden auch Einzelgespräche angeboten.
Wirkungsweise und Notwendigkeit
Durch den eigenen Fluchthintergrund, dieselbe Sprache und ihr Wissen um die kulturelle Prägung von Gesundheitskonzepten sind die psychosozialen Beraterinnen und Berater „Peers“ für ihre Klientinnen und Klienten. Die Gemeinsamkeiten machen sie zu Rollenvorbildern und ermöglichen ihnen einen leichteren Zugang zu den Ankommenden. Das Beratungsangebot ist niederschwellig, kostenfrei und unabhängig vom Asylstatus direkt in der Unterkunft aller Bewohner/-innen zugänglich. Der Ansatz ist präventiv und ressourcenorientiert. Gleichzeitig besteht die Möglichkeit, Personen mit höherem Hilfebedarf in psychiatrische Behandlungsangebote weiterzuvermitteln.
Die Psychoedukationsgruppen werden anhand von standardisierten Fragebögen und einem Evaluationsbogen auf Wirksamkeit überprüft. Eine Fachpublikation mit der ersten Evaluation ist derzeit in Arbeit. Insgesamt zeigt sich eine hohe Zufriedenheit der Klient/-innen mit den Gruppen und zahlreiche Aussagen von Klient/-innen bestätigen die Sinnhaftigkeit des Projektansatzes: „Wir brauchen nicht nur einen Arzt für den Körper, sondern auch jemanden wie Euch zum Reden.“ Die Klient/-innen haben häufig die erstmalige Gelegenheit, mit einer neutralen, vertrauenswürdigen Person über ihre Sorgen zu sprechen. Durch die Vermittlung des Stresskonzepts und den Austausch in der Gruppe entsteht Normalisierung und Erleichterung. Gleichzeitig wird die Möglichkeit für soziale Unterstützung über die Gruppen hinaus im Alltagsleben der Unterkunft gegeben. Durch die Fokussierung auf Ressourcen und Bewältigungsstrategien werden die Klient/-innen motiviert, selbst Einfluss auf ihre psychosoziale Gesundheit zu nehmen.
Zusammenfassend ist zu sagen, dass das Schweinfurter Modellprojekt des Krankenhauses St. Josef den international erprobten Ansatz von Ärzte ohne Grenzen erfolgreich auf den deutschen Kontext überträgt. Es leistet präventive, psychosoziale Hilfe, adressiert Bedarfe frühzeitig und vermittelt bei schwereren Fällen in psychiatrische bzw. psychotherapeutische Behandlung, bevor es zu einer Eskalation kommen könnte. Der hohen Notwendigkeit von psychosozialer Versorgung Geflüchteter wird angesichts der bestehenden Versorgungslücke in Deutschland durch den Projektansatz effektiv Sorge getragen. Die „Ambulanz für Seelische Gesundheit St. Josef“ ist mit ihrem Projekt „SoulTalk“ für den Deutschen Integrationspreis 2018 nominiert und belegte im Vorrundenwettbewerb den dritten Platz. Weitere Informationen zum Projekt finden Sie z.B. auf www.betterplace.org, www.josef.de oder auf www.startnext.com
Der Artikel ist erstmals im Informationsdienst Migration, Flucht und Gesundheit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) erschienen. Lesen Sie dort noch mehr Interessantes zu diesem Themenbereich.