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04.09.2014

Nicht Anklage der, sondern Anleitung zur Klassenmedizin

Alf Trojan bespricht Bernd Kalvelages "Klassenmedizin. Plädoyer für eine soziale Reformation der Heilkunst."

Alf Trojan, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf


Kalvelage, Bernd:Klassenmedizin. Plä­do­yer für ei­ne soziale Re­for­ma­ti­on der Heilkunst. SpringerMedizin, Ber­lin Heidelberg 2014. ISBN 978-3-642-54749-2

Verfasser der Buchrezension ist Prof. Dr. Dr. Alf Trojan, ehemaliger Di­rek­tor des Instituts für Medizin-Soziologie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf.

Ge­sund­heit­liche Chancenungleichheit in ei­nem be­nach­tei­lig­ten Hamburger Stadt­vier­tel, deren bewusste Wahr­neh­mung und Re­du­zie­rung, ist der Aus­gangs­punkt die­ses Buches.

Beim Ti­tel dachte ichzuerst an ei­ne An­kla­ge der Zwei- oder Mehr-Klassenmedizin (zu­mal auch ein rotes Stopp­schild über dem Wort steht). Angeklagt wird zwar auch in dem Buch, aber das Besondere, das pro­vo­ka­tiv Neue ist die positive Wen­dung des Begriffs: nicht An­kla­ge der, son­dern An­lei­tung zur Klassenmedizin ist der Inhalt des Buches! Mit den Worten des Autors (S. 16):

„Klassenmedizin ist nicht ‘Medizin light‘, sie komplettiert die ärztliche Be­hand­lung zu ei­ner Heilkunst, die den Na­men ‘Kunst‘ verdient. Sie hat nicht weniger anzubieten, son­dern mehr, sie gestaltet ih­re An­ge­bo­te an­ders, sie steht für ei­ne Heilkunde, die verfügbare Fä­hig­keit­en, Er­fah­rung­en und Techniken aus Psychologie, Psy­cho­the­ra­pie, Verhaltensmedizin, So­zi­al­ar­beit anwendet und die Em­pa­thie und ge­sun­den Menschenverstand in Verbindung mit erstklassigem medizinischen Wissen und Können in ih­re The­ra­pie in­te­griert: ei­ne ‘in­te­grierte Medizin‘ im psychosomatischen Sinne al­so, die leistet, was ihr Ad­jek­tiv verspricht.“

Klassenmedizin als „schichtsensible Heilkunst“

Klassenmedizin ist „ei­ne schichtsensible Heilkunst“. Das „Soziale“ solle in der Me­di­zin gleich-wertig Be­rück­sich­ti­gung finden- im Sinne ei­ner seit langem geforderten, aber in der Pra­xis kon­stant vernachlässigten Sozio-Psycho-So­matik. Wie ei­ne Re­for­ma­ti­on der Me­di­zin in Rich­tung ei­ner „Kunst des Heilens“ (Lown) mit Blick auf den Drei­klang von „So­ma, See­le und Sozialem“ aus­se­hen könnte und müsste, das wird in neun Kapiteln und ei­nem ergänzenden Pro­gramm „wi­der die Kom­mer­zi­a­li­sie­rung der Me­di­zin“ in dem Buch auf spannende, teil­wei­se kurzweilige und vor allem erfahrungsgesättigte Wei­se dargestellt bzw. bes­ser: dem Le­ser und der Le­se­rin ans Herz gelegt. Dass dies über­zeu­gend gelingt, liegt ei­ner­seits an dem durch umfassende Be­le­sen­heit und Sprachkreativität er­fri­schend journalistischen Stil des Buches, mehr noch aber an der Au­then­ti­zi­tät der zahlreichen Fallgeschichten, die der Au­tor in über 25 Jahren fachärztlicher Tä­tig­keit in ei­ner Ge­mein­schafts­pra­xis für Innere Me­di­zin/Diabetologie im Hamburger Stadt­teil Wilhelmsburg ge­sam­melt hat, in engagierter harter Ar­beit in ei­nem der bun­des­weit bekanntesten „sozialen Brennpunkte“ bzw. „Stadt­teile mit besonderem Entwicklungsbedarf“.

Diese Fundierung aus jahrelanger medizinischer Pra­xis wird an vielen Stel­len des Buches theoretisch reflektiert und eingeordnet. Pi­erre Bourdieus gesellschaftliche Ana­ly­se, „Die fei­nen Un­ter­schiede“ wird nicht nur wie­der­holt zitiert, son­dern das Sozial-Distinktive wird im An­satz ähn­lich ak­ri­bisch aus dem Alltagsbanalen des Me­di­zinbetriebs herausgearbeitet.

Der Au­tor lässt kei­ne Berührungsängste zur „Un­ter­schicht“ unserer Ge­sell­schaft er­ken­nen, die er auch so nennt. Allerdings tau­chen bei ihm kei­ne „Un­ter­schichtmenschen“ auf, son­dern „Patienten oder Menschen aus der Un­ter­schicht“, die in Kasuistiken re­spekt­voll mit ihren Nöten, Konflikten, Schwä­chen und ihren Stär­ken (Res­sour­cen) - durch­aus liebevoll - beschrieben wer­den.

Das Originelle die­ses Buches ist der gelungene Versuch, die Be­din­gung­en kon­kret zu be­schrei­ben, die für das vorzeitige Sterben und die ungünstige Krankheitsprognose von Menschen aus der Un­ter­schicht verantwortlich sind.

Dazu postuliert der Au­tor:

1. Die üblichen Definitionskriterien des Sozioökonomischen Sta­tus (=SES: Be­ruf, Einkommen, Bil­dung) seien un­ge­eig­net und nur schwach verknüpft mit der nachweisbaren mangelnden Gesundheitskompetenz in der Un­ter­schicht und deren Fol­gen.

2. Das „Vermögen“ - im doppelten Sinn des Wortes - sei ent­schei­dend (und das be­legt er mit zahlreichen Kasuistiken): so­wohl das einkommens-unabhängige materielle Sicherheitspolster inkl. fördernder sozialer Beziehungen - oder deren Fehlen, wie auch das (erlernbare - oder oft eben nicht vermittelte) Eigen-Vermögen, sei­ne An­ge­le­gen­heit­en selbst er­folg­reich re­geln zu kön­nen. („Selbstwirksamkeitserfahrung“, Bandura).

Dieser Ge­dan­ke verdiene es, stärker als bis­her in der medizinsoziologischen For­schung berücksichtigt zu wer­den, ob­wohl, nein, weil die Kriterien der Selbstwirksamkeit schwerer zu stan­dar­di­sie­ren und zu eruieren sind im Vergleich zu Einkommen etc.

An­re­gung­en aus der Lernpädagogik

Kalvelage beruft sich auf ei­nen in sei­nen Au­gen vorbildlichen wissenschaftlichen An­satz, den er aus der Lernpädagogik entnimmt: Hattie (2013) habe in ei­ner spektakulären, großen Metastudie u.a. herausgefunden, dass der Lernerfolg von Schü­le­rin­nen und Schülern hauptsächlich von der Person des Lehrers/der Leh­re­rin abhängt. Kalvelage schlussfolgert: mehr als auf Leit­li­nien (die soziale Aspekte oft vermissen ließen) und als auf spezielles Fach-Wissenkomme es auf die Person des Arztes/der Ärz­tin an bei der För­de­rung der Selbstwirksamkeitserfahrung von Pa­ti­en­tin­nen und Patienten aus der Un­ter­schicht. Die „Droge Arzt“ (Balint) könne hier ei­ne besondere, bis­her meist unterdosierte Heilkraft ent­fal­ten.

Bei Hattie findet er ei­ne weitere Ana­lo­gie zur Klassenmedizin: Interessanterweise seinach Hattie der SES des Elternhauses beim Lernerfolg der Kinder wich­tig, aber weniger ent­schei­dend als der SES der Schule. Kalvelage folgert: Gut ausgestattete, exzellente Praxen und Krankenhäuser seien in den Stadt- und Landesteilen mit niedrigem SES dem­nach - auch an­ge­sichts der aktuellen Verteilungsrealitäten und -anreize - ge­mäß sei­nem Verständnis von Klassenmedizin drin­gend zu for­dern und zu för­dern.

DasVerdienst die­ses Buches ist in jedem Fall, nicht bei der oft hilflos achselzuckenden Be­schrei­bung vonChancenungleichheiten im Krankheitsfallstehenzubleiben, son­dern es kommt zu kon­kreten Hand­lungs­empfeh­lun­gen, die im­mer wie­der kon­kret aufgezeigt wer­den.

Die Ka­pi­tel im Überblick

Wie gern würde ich aus­führ­lich und kapitelweise Neu­gier auf das Buch wecken! Jedes Ka­pi­tel ist nämlich für sich ein­zig­ar­tig: die sehr per­sön­liche Selbstreflexion über „gutes“ Arztsein und Menschbleiben (Ka­pi­tel 2; Ka­pi­tel 3 di­rekt an Stu­die­ren­de gerichtet), die argumentations- und faktenreiche Aus­ei­nan­der­set­zung über „Preis, Wert und Wür­de“ in der ambulanten K(l)assenmedizin (Ka­pi­tel 4) so­wie die Fol­gen von Hierarchie und dem Pri­mat der Öko­no­mie im Krankenhaus (Ka­pi­tel 5), die un­ge­heu­er facettenreiche Be­hand­lung von (meist der Un­ter­schicht angehörigen) Pa­ti­en­tin­nen und Patienten mit Migrationshintergrund und die prekäre Krankenversorgung von Flüchtlingen (Ka­pi­tel 6), die auf den ersten Blick will­kür­lich erscheinenden Zuschreibungen von „Chronifizierungen“:des Lebens, aber auch die so­zi­aler La­gen, des Arztseins und des Krankseins, der Ge­sund­heit (Ka­pi­tel 7), das eigen-„ge­setz­lich“ erscheinende Scheitern der 23 „Ge­sund­heitsreformen“ in den letzten 23 Jahren (Ka­pi­tel 8) und die zusammenfassenden und zur gesellschaftlichen De­bat­te einladenden The­sen zur „Re­for­ma­ti­on der Heilkunst“ im Sinne der titelgebenden „Klassen(sensiblen)medizin“ (Ka­pi­tel 9).

Ein „Lehr­buch“ (S.VII) im besten Sinne wird diese ärztliche Lebensbilanz ge­wiss für jeden sein, der sich auf das eben­so parteiische wie differenzierte und selbstkritische Werk einlässt! Zu wün­schen wä­re, dass es auch in der Aus­bil­dung heutiger Medizinstudierender seinen fes­ten Platz bekommt: Ein Lehr­buch, das der Per­spek­ti­ve des Patienten mit So­ma, See­le und Sozialem so per­sön­lich und so po­li­tisch Gel­tung verschafft, wie es Bernd Kalvelage tut, hat bis­her gefehlt! Auch für Ge­sund­heitsförderer, die so­zi­al bedingte ge­sund­heit­liche Chancenungleichheit be­kämp­fen wol­len, liefert das Buch viel An­schau­ungs­ma­te­ri­al zum bes­seren Verständnis ihrer Ziel­grup­pen und zahlreiche An­re­gung­en, sie bes­ser zu er­rei­chen.

Eine stark gekürzte Version dieser Besprechung erscheint voraussichtlich im Oktober 2014 im Hamburger Ärzteblatt.

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