19.10.2021
Gesundheitsbezogene Pandemiefolgen bei Kindern und Jugendlichen - ERGÄNZT um Handlungsempfehlungen
Eine Kurzauswertung der Studienlage
Mika Kleinert, Gesundheit Berlin-Brandenburg
Stefan Bräunling, Gesundheit Berlin-Brandenburg
Schlagwörter:Corona, Familie, Jugendhilfe, Kinder
Wie geht es den Kindern und Jugendlichen nach eineinhalb Jahren Covid-19-Pandemie und den entsprechenden Eindämmungsmaßnahmen? In welchen Feldern werden (dringende) Handlungsbedarfe sichtbar? Die Geschäftsstelle des Kooperationsverbundes Gesundheitliche Chancengleichheit gibt hier einen groben zusammenfassenden Überblick über die Studienlage.
1. Gewalt
Gewalt gegenüber Kindern ist im Jahr 2020 im Zuge der Pandemie gestiegen (Beitzi, Leest & Schneider, 2020; Calvano et al., 2021; Unabhängiger Beauftragter für Fragen des Sexuellen Kindesmissbrauchs & Bundeskriminalamt, 2020).
Es zeichnet sich ab, dass mehr Zeit online auch mit mehr Gewalt online einhergeht. So gibt es eine Zunahme an Cybermobbing (Beitzi et al., 2020) und eine Zunahme von Verbreitung, Erwerb, Besitz und Herstellung von sexuellen Missbrauchsabbildungen, sogenannter Kinderpornografie (Unabhängiger Beauftragter für Fragen des Sexuellen Kindesmissbrauchs & Bundeskriminalamt, 2020).
Auch offline hat die Gewalt zugenommen (Unabhängiger Beauftragter für Fragen des Sexuellen Kindesmissbrauchs & Bundeskriminalamt, 2020). Die Auswertung der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) über das gesamte Jahr 2020 verzeichnet mit ca. 5.000 Fällen eine Zunahme von Misshandlungen Schutzbefohlener um 10 % im Vergleich zum Vorjahr. Kindesmissbrauch ist um 7 % auf über 14.500 Fälle gestiegen (Unabhängiger Beauftragter für Fragen des Sexuellen Kindesmissbrauchs & Bundeskriminalamt, 2020). Calvano et al. (2021) konnten zeigen, dass ca. ein Drittel der Kinder in den befragten Familien innerhalb seines Lebens bereits eine belastende Kindheitserfahrung gemacht hat. Innerhalb dieser Familien beobachteten die Kinder während der Pandemie zu 29 % mehr häusliche Gewalt und erfuhren zu 42 % mehr verbalen emotionalen Missbrauch. Diese Familien sind durch höheren elterlichen Stress, Jobverlust und jüngeres Alter der Eltern und der Kinder charakterisiert (Calvano et al., 2021). Ähnliche Risikobedingungen finden sich bei Steinert & Ebert (2020). Diese Ergebnisse decken sich mit den Erkenntnissen aus den USA von Lee, Ward, Lee & Rodriguez (2021), wonach Eltern, die bereits ihre Kinder schlagen, ihre Kinder seit den Pandemiebekämpfungsmaßnahmen häufiger schlagen.
Steinert & Ebert (2020) konnten zeigen, dass es in 6,5 % der befragten Haushalte zur körperlicher Bestrafung eines Kindern (z.B. Ohrfeige, Stoß, etc.) kam. Das deckt sich mit dem Befund von Calvano et al. (2021), wonach 6,5 % der befragten Eltern eine schwere belastende Kindheitserfahrung (Gewalt, Missbrauch oder Vernachlässigung) berichten. Calvano et al. (2021) berichten allerdings auch, dass diese 6,5 % im Einklang mit der vorpandemischen Prävalenz für schwere belastende Kindheitsereignisse stehen.
Im April/Mai 2020 verzeichneten die meisten Jugendämter keine Zunahme von Hinweisen auf eine Kindeswohlgefährdung (Mairhofer, A., Peucker, C., Pluto, L., van Santen, E., Seckinger, M. & von Gandlgrube, M., 2020). Die Zahlen hierfür werden von Jugendämtern allerdings unterschiedlich interpretiert, da die Kommunikationswege von Gefährdungsmeldungen und Inobhutnahmen unterbrochen wurden (Mairhofer, A. et al., 2020).
Vor dem Hintergrund der jetzigen Studienlage kann gesagt werden, dass Gewalt vor allem online und in Familien, in denen es bereits vorher zu Gewalt kam, zugenommen hat.
2. Psychische Gesundheit
Kinder und Jugendliche fühlen sich durch die Pandemie belastet (Kaman et al., 2021; Ravens-Sieberer et al., 2021). Sozial benachteiligte Kinder erlebten die Belastungen durch die Pandemie besonders stark (Kaman et al., 2021; Ravens-Sieberer et al., 2021). Auf die soziale Ungleichheit weisen auch Andresen et al. (2020a) hin. Während Familien mit vielen Ressourcen die Pandemie im April/Mai 2020 auch als schöne Zeit beschreiben, klagen andere Familien über Erschöpfung und Existenzangst (Andresen et al., 2020a).
Bundesweit gab es eine Zunahme von Einsamkeit (Andresen et al., 2020b) und von Sorgen (Andresen et al., 2020b; Spieß, Huebener & Pape, 2021). Eltern ohne Abitur machen sich dabei mehr Sorgen um die Bildung, wirtschaftliche Zukunft und Gesundheit ihrer Kinder als Eltern mit Abitur (Spieß, Huebener & Pape, 2021). Im Mai/Juni 2020 stellen Ravens-Sieberer et al. (2021) allerdings fest, dass die Depressivität (noch) nicht signifikant nachweisbar ist. Kaman et al. (2021) sprechen in Bezug auf die im Juni/Juli 2020 erhobenen Daten zu Hamburger Kindern und Jugendlichen jedoch von einer Zunahme von Depressivität sowohl der Kinder und Jugendlichen als auch der Eltern. Das deckt sich mit Befunden des DAK Präventionsradars (2021), wonach 23 % der Kinder und Jugendlichen Symptome depressiver Störungen zeigen: Traurigkeit, geringes Selbstwertgefühl, Interessensverlust und sozialer Rückzug, deutlich mehr als im Vorjahr mit 18 %.
Ravens-Sieberer et al. (2021) erklärten die (Noch)Nicht-Zunahme von Depressivität damit, dass eine Pandemie zunächst zu Angstreaktionen führe. In der Tat wird in Studien aus dem ersten Halbjahr 2020 immer wieder von einer Zunahme von Ängstlichkeit (Ravens-Sieberer et al., 2021) oder Zukunftsangst (Andresen et al., 2020c) gesprochen.
Eine Befragung von 401 überwiegend ambulant tätigen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen über Kinder und Jugendliche, die bereits in Behandlung sind, ergab, dass 12- bis 17-jährige am meisten belastet sind. Insgesamt treten unter den jugendlichen Patient*innen am häufigsten Depressionen, Schlafstörungen und Angststörungen auf. Es gibt außerdem mehr Zukunftsangst, Leistungsabfall, vulnerablere Geschwisterbeziehungen und einen gestiegenen Versorgungsbedarf (bvvp e.V. Bundesverband der Vertragspsychotherapeuten, 2021).
Die Kinder und Jugendlichen berichteten außerdem häufiger psychosomatische Beschwerden wie Gereiztheit, Einschlafprobleme und Kopfschmerzen (Kaman et al., 2021). Im Vergleich zu der Zeit vor der Pandemie gaben die Kinder und Jugendlichen eine geminderte Lebensqualität an, der Anteil von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Auffälligkeiten hat sich in etwa verdoppelt und ihr Gesundheitsverhalten hat sich verschlechtert (Ravens-Sieberer et al., 2021). Bei fast 700.000 Kindern und Jugendlichen ist das Gaming riskant oder pathologisch (DAK, 2020). Eine pathologische (krankhafte) Nutzung von Social Media wird bei rund 170.000 Jungen und Mädchen (3 %) festgestellt (DAK, 2020).
Was Ressourcen betrifft, konnten Ravens-Sieberer et al. (2021) zeigen, dass Kinder und Jugendliche, die optimistisch und zuversichtlich in die Zukunft schauten, sowie jene, die viel gemeinsame Zeit mit ihren Eltern verbrachten, jeweils eine höhere gesundheitsbezogene Lebensqualität berichteten. Ein guter familiärer Zusammenhalt wirkte protektiv und konnte die Belastungen durch die Pandemie abmildern (Kaman et al., 2021).
3. Bewegung
Kinder und Jugendliche machen weniger Sport, aber verbringen mehr Zeit vor Bildschirmen (Schmidt et al., 2020). Der Trend hin zu weniger Bewegung bestand allerdings schon vor der Pandemie (Schmidt et al., 2021). Die Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation, sich täglich mindestens 60 Minuten mit moderater bis hoher Intensität körperlich aktiv zu betätigen, erreichen seit 2003 immer weniger Kinder und Jugendliche in Deutschland. Waren es zu Beginn der Studie im Jahr 2003 noch 25 %, sind es heute im Mittel nur noch rund 18 % (Schmidt et al., 2021). Gemäß dem Präventionsradar der DAK (2021) sind in Pandemie-Zeiten noch 34 % der Jungen ausreichend körperlich aktiv, jedoch nur 24 % der Mädchen.
Wenn Kinder und Jugendliche bereits vor der Pandemie viel Zeit vor Bildschirmen verbracht haben, so ging damit weniger physische Aktivität während der Pandemie einher (Wunsch et al., 2021). Eine hohe präpandemische gesundheitsbezogene Lebensqualität hatte bei Mädchen, die jünger als 10 Jahre alt waren, einen positiven Zusammenhang mit physischer Aktivität während der Pandemie (Wunsch et al., 2021). Wunsch et al. (2021) empfehlen aufgrund der Vorhersagekraft von Zeit vor Bildschirmen, gesundheitspolitisch auf eine Reduktion von Bildschirmzeit zu zielen, anstatt auf die Steigerung von physischer Aktivität.
Laut dem Deutschen Kinderhilfswerk (2021) vermissen aber 90 % der Kinder (6-14 Jahre) den Sport und die Bewegung während der Pandemie. Wenn nach der Corona-Pandemie jedes Kind ein Jahr lang kostenlos in einem Sportverein mitmachen könnte, würden 86 % der Kinder dieses Angebot auf jeden Fall oder wahrscheinlich wahrnehmen (Deutsches Kinderhilfswerk, 2021).
4. Ernährung
Ein Viertel der Kinder und Jugendlichen (26 %) berichtete, etwas bis viel mehr Süßigkeiten als vor der Covid-19-Pandemie zu essen (Ravens-Sieberer et al., 2021). Auch Koletzko, Holzapfel, Schneider, & Hauner (2021) wiesen darauf hin, dass alle Familien mehr Snacks und Softdrinks konsumierten. Gleichzeitig zeigten Koletzko et al. (2021), dass Familien mit eher hoher Bildung und hohen Einkommen mehr zu Hause kochten und in der Folge mehr Gemüse, Früchte und weniger Fleisch, sprich gesünder, als vor der Pandemie essen.
Kinder aus weniger privilegierten Familien weisen im Gegensatz dazu ein 2,5-faches Risiko für Gewichtszunahme auf (9 % Gesamtprävalenz für Gewichtszunahme der Kinder insgesamt, 23 % Prävalenz für Gewichtszunahme bei Kindern von Eltern mit unter 10 Jahren Schulbildung) (Koletzko et al., 2021).
- Die genauen Literaturangaben erhalten Sie auf Anfrage gerne bei dem Erstautoren dieses Beitrags, Herrn Kleinert.
Ergänzungen:
Was ist nun zu tun?
Lesen Sie ...
- die Botschaften aus dem 2. Düsseldorfer Symposium zu Kinderrechten und Kinderschutz, "Kinder und Jugendliche in der Pandemie: Problemfelder - Lösungsansätze - Verstetigung" vom März/April 2021
- den Bericht der Interministeriellen Arbeitsgruppe aus BMFSFJ und BMG, „Gesundheitliche Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche durch Corona“ vom September 2021 mit insgesamt 26 Empfehlungen in drei Handlungsfeldern