15.07.2019
Psychosoziale Folgen von Arbeitslosigkeit bei jungen Geflüchteten
Reinhold Gravelmann, AFET-Bundesverband für Erziehungshilfe e.V.
Schlagwörter:Arbeitslosigkeit, Geflüchtete, Integration
In Deutschland brummt die Konjunktur und es herrscht Fachkräftemangel in sehr vielen Berufssparten. Und dennoch befasst sich dieser Artikel mit den psychosozialen Folgen von Arbeitslosigkeit? Ja - denn die Notwendigkeit besteht weiterhin. Etliche Menschen, u.a. (junge) Flüchtlinge, werden auch in Zeiten der Hochkonjunktur nicht in den Arbeitsmarkt integriert. Es mangelt an einer Auseinandersetzung mit den psychosozialen Folgen, die gerade bei jungen Menschen in Erscheinung treten können, wenn „Arbeit, die Mutter des Lebens“ (slowakisches Sprichwort) fehlt.
"Der ärmste Mensch ist der, der keine Aufgabe mehr hat."
© Albert Schweitzer (*1965), deutsch-französischer Arzt, Theologe, Musiker und Kulturphilosoph, Friedensnobelpreis 1952
Den beruflichen Wünschen steht bei vielen jungen Flüchtlingen eine Wirklichkeit gegenüber, die diese Träume zerplatzen lässt. Die beruflichen Integrationsprozesse der jungen Flüchtlinge gleichen eher einem „Langstreckenlauf“, so Bundesarbeitsministerin Nahles, als einem Sprint. Mindestens fünf Jahre sind ein realistischer Zeitraum, bis die berufliche Ausbildungsphase abgeschlossen ist. Eine Arbeitsstelle als ungelernte Kraft zu finden, ist trotz verbesserter rechtlicher sowie wirtschaftlicher Rahmenbedingungen ebenfalls nicht leicht. Zumeist handelt es sich dann um unsichere und schlecht bezahlte Arbeitsstellen1, sehr häufig in Zeitarbeitsunternehmen2.
"Jede Situation ist zu ertragen, auf die wir handelnd reagieren können."
©Johann Mutius ( *1631), deutscher reformierter Pfarrer und lippischer Generalsuperintendent
Junge Flüchtlinge sind gefordert viel Neues zu lernen und sie müssen warten3. Warten auf das Asylverfahren, warten im Ausländeramt, warten auf den Aufenthaltstitel, warten auf die Sprachkurse, warten auf Wohnraum, warten auf ihre Familienangehörigen, unter Umständen warten auf Abschiebung, warten... Warten zermürbt. Je weniger handlungskompetent ein Mensch sich erlebt, desto größer ist die Gefahr der Resignation. Bei jungen geflüchteten Menschen ist das Gefühl von Orientierungslosigkeit und Handlungsohnmacht in einer für sie fremden Welt verstärkt gegeben. Die Zeit des Nichts-tun, des oft Nichts-tun-Könnens ist gerade für junge Menschen hoch problematisch für die Persönlichkeitsentwicklung.
"Die Menschenwürde wird nicht durch Arbeit begründet, aber durch die Arbeitslosigkeit beschädigt."
© Ernst Reinhardt (*1932), Dr. phil., Schweizer Publizist und Aphoristiker
Der 15. Kinder- und Jugendbericht benennt Selbstpositionierung, die Verselbständigung und die Qualifizierung als die drei zentralen Entwicklungsaufgaben des Jugendalters. Die Selbstpositionierung beschreibt den Prozess vom Finden einer Balance zwischen subjektiver Freiheit und sozialer Zugehörigkeit zu Gruppen und/oder der Gesellschaft. Mit Verselbständigung ist gemeint, dass es dem jungen Menschen gelingt, soziokulturell, ökonomisch und politisch Verantwortung zu übernehmen. Diese Aufgabe steht in enger Verbindung zur Qualifizierung. Es wird vom Jugendlichen erwartet, dass er allgemeinbildende, soziale und berufliche Handlungskompetenzen erwirbt4. Diese Entwicklungsaufgaben stellen sich für junge Geflüchtete als besondere Herausforderungen dar.
Je besser die Bewältigung der Entwicklungsaufgaben dem geflüchteten Jugendlichen gelingt, umso zufriedenstellender und positiver die gemachten Erfahrungen in der deutschen Gesellschaft sind, umso erfolgreicher und selbstwirksamer wird er/sie sich erleben. Je problematischer die Prozesse verlaufen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit misslingender Individuation, Enkulturation und Integration. Gerade Zeiten unfreiwilliger Arbeitslosigkeit sind für viele Menschen, insbesondere in der Phase des Erwachsenenwerdens, hoch problematisch und wirken sich negativ auf die Persönlichkeitsentwicklung aus, etwa in Bezug auf den Gesundheitszustand. Arbeit hingegen kann (gerade auch bei traumatisierten) jungen Flüchtlingen eine positive Wirkung entfalten.
"Mit das schwerste Los ist arbeitslos."
© Erwin Koch (*1932), deutscher Aphoristiker
Menschen ohne Arbeit sind von sozialer und gesellschaftlicher Teilhabe weitgehend ausgeschlossen. Sie sind abhängig von den geringen finanziellen Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz oder dem SGB II und leben am Rande des Existenzminimums. Für viele junge unbegleitete wie begleitete Flüchtlinge ist (oder wird!) Arbeitslosigkeit somit zu einer prägenden negativen Erfahrung in ihrer Sozialisation. Sie kumuliert mit den zuvor (oft) problematischen Erfahrungen in den Herkunftsländern, der Flucht und der spezifischen Lebenslage als Flüchtling in Deutschland. Vorhandene Potentiale, Kompetenzen und Fähigkeiten können nicht zur Geltung kommen.
"Arbeitslosigkeit ist ein Quell der Krankheit."
© Peter E. Schumacher (*2013), Aphorismensammler und Publizist
Zweifelsohne können permanente Herausforderungen, häufige Überforderungen, Orientierungsprobleme, Ablehnungen durch Arbeitgeber oder die einheimische Bevölkerung zu resignativem Verhalten führen. Das wiederum beeinträchtigt eine aktive Herangehensweise an die Bewältigung von Problemen. Erlebte Machtlosigkeit führt zu einer Misserfolgsorientierung. Wer sich nicht als selbst wirksam erlebt, gerät schnell in den Kreislauf der negativen Selbstbestätigung („Ich bin nichts, ich kann nichts, ich werde nichts“). Gerade Flüchtlinge, die mit großen Hoffnungen nach Deutschland gekommen sind, sehen sich unter Erfolgsdruck, zumal bei jungen Geflüchteten die Erwartungshaltung der Familie hinzukommt. Die Frustration über eine unbefriedigende Lebenslage kann sich in (auto)aggressiven Verhalten niederschlagen. Junge Menschen und insbesondere junge Männer haben in der Jugendphase ohnehin größere Probleme mit ihren Aggressionen umzugehen, dies kann durch Arbeitslosigkeit verstärkt werden. Es können genauso internalisierte Verarbeitungsformen auftreten, die z.B. bestehende psychische Belastungen bei Geflüchteten verstärken. Oft kommt es in Zeiten von Arbeitslosigkeit zu einer Zunahme psychosomatischer Beschwerden, mit denen Flüchtlinge ohnehin vielfach zu kämpfen haben. Längere Zeiten von Arbeitslosigkeit führen zudem zu weiteren erhöhten gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Außerdem kann das gesundheitsbezogene Verhalten -welches bei jungen Menschen häufig wenig ausgeprägt ist- negativ beeinflusst werden. Mit Alkohol, illegalen Drogen oder Zigarettenkonsum wird Langeweile überbrückt, oder der junge Mensch versucht so seine Lage zu verdrängen und dem Alltag zu entfliehen. Eine weitere Folge von längerer Zeit des Nicht-Beschäftigt-Seins ist der Verlust der Tagestrukturierung, die durch Arbeit gewährleistet ist. Das Zeitgefühl geht verloren. Bei geflüchteten Menschen kann die viele unfreiwillige freie Zeit negative Gedanken hervorrufen, die um traumatische Ereignisse kreisen, sich mit dem Verlust der Heimat befassen oder der verloren gegangenen kulturellen Vertrautheit... Dies, verbunden mit der gegenwärtigen Lebenslage in Deutschland, kann Menschen verzweifeln lassen.
Die aufgeführten negativen Folgen von Arbeitslosigkeit wurden unabhängig vom Alter, der sozialen Schicht und dem Geschlecht festgestellt5-8.
"Arbeit ist das beste Mittel gegen Verzweiflung."
© Sir Arthur Conan Doyle (*1930)
Arbeitslosigkeit beeinflusst die Persönlichkeit oft massiv und verändert die Menschen. Sie kann sogar zur völligen psychosozialen Zermürbung und Verzweiflung führen. Arbeit hingegen trägt zur Entwicklung des Selbstwertgefühls bei. Ein Spruch der hannoverschen Handwerkskammer weist darauf hin: Wir sind HandWERker. Man (insbesondere Mann!) ist wer, stellt was dar, kann auf seine Leistungen verweisen. Arbeitslosigkeit hingegen beschädigt das Selbstwertgefühl. Dies gilt bei geflüchteten jungen Männern, bei denen oft noch ein stärker verankertes Rollenbewusstsein des verdienenden Mannes vorherrscht, wohl in besonderem Maße. Je ausgeprägter die Arbeitsorientierung ist, desto stärker leiden die jungen Flüchtlinge unter der Arbeitslosigkeit.
Es ist die Aufgabe aller Akteure, gesellschaftliche Integration durch berufliche Integration zu gewährleisten - im Interesse der betroffenen geflüchteten Menschen und im Interesse der deutschen Gesellschaft. Letztlich kann es als die „gerechtigkeitspolitische Nagelprobe“ angesehen werden, inwieweit Jugendlichen und jungen Erwachsenen in prekären Lebenskonstellationen eine eigene Jugend zugestanden und inwieweit der Aufbau einer Lebensperspektive ermöglicht wird4.
Dieser Beitrag ist eine gekürzte Fassung eines Fachartikels im „Dialog Erziehungshilfe“ 1/2019.
Literatur:
1 Brücker, H. et al. (2019): Geflüchtete machen Fortschritte bei Sprache und Beschäftigung. IAB-Kurzbericht 3/2019.
2 Gürtzgen, N. , Kubis A., Rebien M. (2017): Geflüchtete kommen mehr und mehr am Arbeitsmarkt an. IAB-Kurzbericht 14/2017. Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit (Hrsg.)
3 Gravelmann, R. (2017): Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in der Kinder- und Jugendhilfe. Orientierung für die praktische Arbeit, Ernst-Reinhardt-Verlag München-Basel.
4 Deutscher Bundestag (2017): 15. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe Drucksache 18/11050. Deutscher Bundestag. 18. Wahlperiode, Berlin.
5 Buntenbach, A. (2010): Gesundheitsrisiko Arbeitslosigkeit - Wissensstand, Praxis und Anforderungen an eine arbeitsmarktintegrative Gesundheitsförderung. Arbeitsmarkt aktuell 09. August 2010, 1-23.
6 Camara, M. (2014):
Die psychosoziale Gesundheit von asylsuchenden und geduldeten Flüchtlingen in Deutschland vor dem Hintergrund des eingeschränkten Arbeitsmarktzugangs. Bachelorarbeit. Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg, Abgabe 18.02.2014. In: edoc.sub.uni-hamburg.de/haw/volltexte/2014/2811/, letzter Abruf 2.07.2019.
7 Faust, W. (o. Jahresangabe): Seelisch Kranke unter uns. In: www.psychosoziale-gesundheit.net/seele/arbeitslosigkeit.html, letzter Abruf 02.07.2019.
8 Oschmiansky, F. (2010): Folgen der Arbeitslosigkeit. In: www.bpb.de/politik/innenpolitik/arbeitsmarktpolitik/54992/folgen-der-Arbeitslosigkeit?p=all, letzter Abruf 02.07.2019.
Diverse Veröffentlichungen zu oben genannten Themenfeldern: www.referent-gravelmann.de