07.05.2021
Quartiersarbeit in Zeiten von Corona – Erste konzeptionelle Rück- und Ausblicke
Cornelia Harrer, Der Paritätische NRW
Die Covid-19-Pandemie und die damit verbundenen Schließungen von Einrichtungen, Kontakt- und Versammlungsverbote bzw. -restriktionen haben die Quartiersarbeit mitten ins Mark getroffen, da vor allem die persönlichen Begegnungen, die Treffen in Gruppen, die Stadtteil- und Sozialraumkonferenzen das Herz der Quartiersarbeit sind. Wie die Träger mit den Herausforderungen der Pandemie umgegangen sind, wie sie konzeptionell reagiert haben und was aus dieser besonderen Zeit des Miteinanders gelernt werden kann, hat Cornelia Harrer im Rahmen von vier Thesen beleuchtet.
Elastische Räume: Übergänge zwischen öffentlichen und privaten Räumen
Während des Lockdowns wird der öffentliche Raum zu einem Ort, an dem Botschaften ausgetauscht werden. Kleine Straßen- oder Balkonkonzerte unterhalten die Nachbarschaft. Die Seniorengymnastik findet auf der Grünfläche statt, Bewohner*innen machen von ihren Balkonen aus mit. Beratungen finden am offenen Fenster statt oder auf dem Spielplatz. Gerade ältere Menschen oder solche, die bewegungseingeschränkt sind oder andere Gründe haben, das Haus nicht verlassen zu können, können durch diese ‚Übergangsräume‘ am gesellschaftlichen Leben teilhaben. Dadurch lösen sich die strikten Grenzen zwischen öffentlichem und privatem Raum - eine Eigenschaft, die auch in Zeiten nach Corona relevant erscheint. Diese Potenziale zu sichten und die Schwellenräume zu beleben, kann Quartiersentwicklung leisten.
Kommunikation: Face to face und Kachelansicht?
Kommunikation bei Wahrung von Abstandsregeln und Kontaktbeschränkungen war und ist eine zentrale Aufgabe der Mitarbeiter*innen in der Quartiersarbeit. Der Einsatz digitaler Medien lag nahe und wurde schnell genutzt. Durch die digitale Ansprache konnten Menschen im Quartier erreicht werden, die sonst nicht an analogen Angeboten teilgenommen hätten. Ein weiterer Aspekt ist auch, dass für jedes physische Treffen Hürden überwunden werden müssen, nicht nur räumliche, sondern auch psychische. Digitale Formate ermöglichen eine individuelle Teilhabe und Teilnahme, wobei gleichzeitig Beziehungen demokratischer und authentischer gestaltet und dem Anspruch, den Menschen auf Augenhöhe zu begegnen, Rechnung getragen werden kann.
Trotzdem wird es weiterhin analoge Begegnungsformen brauchen. Nicht nur, weil nicht alle mit den entsprechenden Endgeräten ausgestattet sind und/oder diese nicht bedienen können, sondern auch, weil sich nicht alle Formate für den digitalen Austausch eignen.
Engagement: für Risikogruppen und von Risikogruppen?
Das Engagement für die sogenannten Risikogruppen in Form von Nachbarschaftshilfe, Einkaufsdiensten oder Hol- und Bringdiensten etablierte sich innerhalb weniger Tage, manchmal angeregt und organsiert durch die Dienste und Einrichtungen im Quartier, fast genauso häufig durch Bürger*innengruppen. Interessanterweise gab es dabei oft mehr Helfer*innen als Menschen, welche die Hilfe benötigten oder in Anspruch nahmen. Warum das so war, darüber lässt sich nur spekulieren: Vielleicht sind die Menschen im Alltag besser vernetzt und versorgt als wir annehmen? Vielleicht war es nicht die Einkaufshilfe, die die Menschen in dieser Zeit brauchten, sondern etwas ganz anderes? Und wie mag es sich für die Betroffenen angefühlt haben, über Wochen als Gruppe angesehen zu werden, die Hilfe, Solidarität und Schutz benötigt? Nicht wenige wehrten sich gegen diese Zuschreibungen und forderten mehr Selbstbestimmung.
Eine Möglichkeit wäre sicher auch gewesen, Menschen, die aufgrund von Covid-19 zu Hause bleiben müssen oder wollen, nicht allein als Gruppe zu sehen, die auf Unterstützung angewiesen ist, sondern sie stattdessen als eine Gruppe zu sehen und anzusprechen, die etwas zur Bewältigung der Krise beitragen kann und sich engagieren kann und will. Diesen Aspekt kann sicher verstärkter und gezielter aufgegriffen werden; auch, um Quartiere krisenresilient(er) zu machen.
Für die Mitarbeitenden im Quartier würde das bedeuten, gezielt Engagementfelder zu entwickeln, die von zu Hause aus durchgeführt werden können: so haben viele in der Krise Masken genäht, Trostbriefe geschrieben, Päckchen gepackt oder Telefonketten initiiert. Aber warum soll es zukünftig nicht mehr Reparatur-, Werk- und Handarbeitsanleitungen per Video geben, ein Podcast mit Stadtteilgeschichten kann von zu Hause aus produziert werden, so wie die Stadtteilzeitschrift. Wer nicht mehr zum Stadtteilfest kommen kann, kann Marmelade für den Bazar machen oder etwas stricken? Des Weiteren ermöglichen digitale Medien, dass Hausaufgabenhilfen, Geschichten vorlesen, spielen und rätseln auch digital mit Tablets erfolgt.
Es kann eine große Chance darin liegen, zukünftig Menschen, die alt, hochaltrig, immobil, behindert, chronisch krank oder einfach nur zurückgezogen leben, relevanzstärker mitzudenken, ihnen mehr zuzutrauen und zuzumuten. Geeigneter Förderprogramme, wie etwa das „Zugänge sichern - Digitalisierung stärken“ der Stiftung Wohlfahrtspflege, können hier sicher wichtige Beiträge dazu leisten, diese Idee weiter zu befördern.
Gute Orte: draußen und drinnen?
Quartiersarbeit findet überwiegend hinter verschlossenen Türen statt. Damit sind diese Angebote weniger sichtbar und die Zugänglichkeit ist erschwert. Durch die Pandemie sind viele neue Draußen-Formate entstanden: Man trifft sich am Spielplatz, an Parkbänken, am Bücherschrank vor der Einrichtung, beim Draußen-Schach oder beim Kaffee-to-go auf dem Marktplatz. Sport und Bewegung finden im nahegelegenen Park statt. Damit wird das Quartier, die Nachbarschaft, das Miteinander sichtbar und erlebbar. Es ist leichter und unverbindlicher, unverfänglicher (und damit niedrigschwelliger), wenn keine Barrieren überwunden werden müssen, um mitzumachen. Und es passiert, was letztendlich Ziel jeder Quartiersentwicklung ist: dass sich Menschen mit ihrem Quartier wohlfühlen und damit identifizieren.
Fazit
Als ein erstes Zwischenfazit zur Covid-19-Pandemie und ihren Auswirkungen auf die Weiterentwicklung der Quartiersarbeit lässt sich somit festhalten: Der Umgang mit den komplexen Auswirkungen der Pandemie wird weiterhin herausfordernd bleiben. Gleichwohl führten die mit der Pandemie verbundenen gesellschaftlichen Veränderungen und Erfahrungen bereits zu vielen konzeptionellen Impulsen und Veränderungen in der Quartiersarbeit, welche ihre Konzepte und Angebote immer wieder neu überdenken und sie entlang der Fragen, Bedarfe und Interessen der Bürger*innen weiterentwickeln muss. Die dargestellten konzeptionellen Veränderungen sind somit nur Beispiele für die immer wieder nötigen konzeptionellen Weiterentwicklungen in der Quartiersarbeit.
Dieser Auszug wird mit freundlicher Genehmigung von Frau Harrer veröffentlicht. Den vollständigen Beitrag finden Sie hier.