06.12.2012
Rahmenbedingungen für ein gesundes Aufwachsen
Zwischenstand im Rahmen des Partnerprozesses "Gesund aufwachsen für alle!"
Klaus Hurrelmann, Hertie School of Governance, Berlin
Schlagwörter:Armut, Familie, Kommunen, Netzwerk, Partnerprozess
Die World Vision Kinderstudien machen anschaulich deutlich, wie gut es einer großen Mehrheit der Kinder in Deutschland glücklicherweise geht. Aber die Studien zeigen uns leider auch, wie problematisch die Lebenslage von etwa einem Fünftel der jüngsten Generation ist. Bei ihnen gibt es Probleme im Familienleben, kommt es zu Schwierigkeiten in der Schullaufbahn, häufen sich soziale und gesundheitliche Probleme.
Viele Kommunen versuchen, aus eigener Kraft darauf zu reagieren. Sie haben allerdings nur begrenzte Gestaltungsmacht, um die pädagogischen Ausgangslagen in den Elternhäusern und Bildungseinrichtungen zu verbessern, während sie für die Folgekosten im Sozialbereich voll zur Kasse gebeten werden. Immerhin haben sie die Möglichkeit, auf den frühkindlichen Entwicklungsprozess einzuwirken und halten durch ihren Einfluss auf Kinderkrippen und -tagesstätten, Horte und Vereine einen wichtigen Hebel in der Hand.
Der Partnerprozess „Gesund aufwachsen für alle!“ setzt hier an und bietet Kommunen ein Forum gemeinsamen Lernens zur Entwicklung und Umsetzung integrierter kommunaler Strategien für ein gesundes Aufwachsen. Von der Entwicklung des Partnerprozesses und den bisher bereits erzielten Erfolgen bin ich sehr beeindruckt. Es ist mir deswegen eine Freude, auf die Ergebnisse der wissenschaftliche Forschung zu verweisen, die für die weitere Arbeit im Partnerprozess von Bedeutung sein können.
Kinder brauchen eine möglichst reichhaltige und vielfältige Umwelt und so viele Anregungen für ihre Entwicklung wie irgend möglich. Die Forschung zeigt klar, wie wichtig diesbezüglich die Rolle der Eltern ist, wie entscheidend ihre Impulse sein können, aber wie schnell Eltern heute auch überfordert sein können. Es geht deshalb darum, die Familie stark zu machen und sie in eine Umwelt zu stellen, die helfen und unterstützen kann, wenn die Kräfte der Mütter und Väter aufgebraucht sind.
Familienpolitik in Deutschland
Durch die Tradition der Familienpolitik in Deutschland werden Eltern überwiegend durch finanzielle aber nicht durch infrastrukturelle Hilfen unterstützt. Das ist darauf zurückzuführen, dass die Bundesrepublik von ihrer Ausrichtung her ein „konservativer“ Wohlfahrtsstaat ist und von der - an sich richtigen, aber unzureichenden - Idee ausgeht, dass das Beste, was einem Kind passieren kann, die Eltern sind. Die Eltern erhalten ansehnliche materielle Transferleistungen, und der Staat hofft, dass sie damit ihrer Aufgabe als Erzieher und Betreuer ihrer Kinder nachkommen können. Nur wenn die Eltern gar nicht mehr weiter kommen, greift der Staat ein. Er hat eine zurückgenommene „Wächterfunktion“.
Heute merken wir immer stärker die Grenzen, die dieses Modell hat. Es hat zur Folge, dass die Kinder quasi auf Gedeih und Verderb auf ihre Eltern angewiesen sind. In den Gründungsjahren der Bundesrepublik mag das noch in Ordnung gewesen sein, aber heute sind die Familien klein und krisenanfällig geworden und auch vielfältiger strukturiert als in den 1950er Jahren. Sie benötigen ein unterstützendes öffentliches Umfeld, das an die Stelle der schwächer gewordenen Verwandtschaft- und Nachbarschaftsnetze treten kann. Anders als früher müssen wir heute durch öffentliche Hilfen dafür sorgen, dass Eltern Anerkennung und tatkräftige Unterstützung erhalten, um richtig stark sein zu können. Das oberste Ziel der Politik für Kinder muss also sein, das Erziehen der Kinder als eine Verantwortung des gesamten Gemeinwesens zu verstehen. Erziehung und Bildung der Kinder werden zwar von den Eltern privat koordiniert, sind aber keine Privatsache, sondern ein Anliegen der ganzen Gesellschaft.
Weil bisher übersehen wurde, dass Eltern Unterstützung, Hilfe und Vernetzung aus dem öffentlichen Raum benötigen, hat die soziale Ungleichheit und Benachteiligung eines Teils der Kinder in den letzten zwanzig Jahren zugenommen. Das Leben ist komplexer und die Ansprüche an die Lebensführung sind vielfältiger geworden, und ein Teil der Eltern ist hierdurch überfordert. Wird die Förderung der Kinder nur über die Institution Familie geleistet, kommt es aber zwangsläufig zu ungerechten Verteilungen, wenn die Eltern, aus welchen Gründen auch immer, in Schwierigkeiten geraten. Die Transferleistungen und Steuerstrukturen, die unser Wohlfahrtssystem kennt, sind im Kern auf eine traditionelle bürgerliche Kleinfamilie ausgerichtet. Wer diesem Modell folgt, kann in unserem System ganz gut leben. Alle Familien, die von diesem Modell abweichen, und das werden in den letzten Jahren immer mehr, erfahren Nachteile.
Ein weiteres Problem ist die starke Fragmentierung der verschiedenen Dienste. Jedes einzelne Segment des Unterstützungssystems für Kinder arbeitet in relativer Isolation vor sich selbst her. Die verschiedenen Professionen und die Institutionen, in denen sie tätig sind, miteinander zu verbinden, das ist deswegen eine der dringendsten Aufgaben, vor denen wir stehen. Damit hängt eine weitere Schwierigkeit zusammen: Wir haben viel zu viele aufsuchende Strukturen, bei denen die Eltern aktiv tätig werden müssen, um von ihnen zu profitieren. Viel effizienter sind zugehende Strukturen: die Hilfs- und Unterstützungsdienste sind in die Einrichtungen im Vorschulbereich oder in die schulischen Einrichtungen integriert und erreichen damit die Kinder und ihre Eltern quasi nebenbei.
Deutschland gibt im internationalen Vergleich sehr viel Geld für die Familienpolitik aus. Es gelingt uns aber noch nicht besonders gut, damit die nötigen Struktureffekte zu erzielen, die letztlich den Kindern direkt zugutekommen. Ein Umsteuern in diesem Bereich ist überfällig. International werden sehr gute Erfahrungen mit dem Modell des Conditional Cash Transfer gemacht, bei dem finanzielle Zuwendungen an bestimmte Bedingungen geknüpft sind, die auf einen klar definierten Adressatenkreis ausgerichtet sind. Beim Elterngeld und beim „Bildungspaket“ wurde erste Schritte in diese Richtung unternommen, die unbedingt genau erforscht werden sollten, weil sie möglicherweise richtungweisend sind.
Rahmenbedingungen für ein gesundes Aufwachsen
9. Kongress Armut und Gesundheit
STRATEGIEN DER GESUNDHEITSFÖRDERUNG
Wie kann die Gesundheit von Menschen in schwierigen Lebenslagen nachhaltig verbessert werden?
Freitag, 5. und Samstag, 6. Dezember 2003 im Rathaus Schöneberg, Berlin
Armut macht krank
Jeder zehnte Mensch in Deutschland ist arm, und Armut macht krank. Arme Menschen haben in jeder Lebenslage ein mindestens doppelt so hohes Risiko zu erkranken, zu verunfallen oder von Gewalt betroffen zu sein. Im Durchschnitt leben arme Menschen sieben Jahre kürzer. Die Verbesserung der Gesundheit von Menschen in schwierigen Lebenslagen ist eine Aufgabe für das gesamte Gesundheits- und Sozialsystem, aber auch für die Wirtschafts-, Umwelt-, Verkehrs- und Stadtteilpolitik. Der 9. Kongress Armut und Gesundheit wird Strategien diskutieren zur Verbesserung der gesundheitlichen Lage von Frauen, Kindern und Jugendlichen, von behinderten, kranken, älteren Menschen, von Migrant/-innen und Wohnungslosen, auf dem Arbeitsmarkt ebenso wie im Stadtteil oder in der Schule.
Gesundheitsförderung soll nachhaltig wirken
Doch welche Gesundheitsförderung wirkt? Wie können wir effektiv dem Teufelskreis von Armut und Gesundheit entgegentreten? Neben dem Erfahrungsaustausch werden sich viele der Diskussionen auch ausdrücklich der Frage der Nachhaltigkeit stellen: Dabei geht es sowohl um Verbreitung guter Strategien als auch um den Austausch mit neuen Akteuren, die sich verstärkt für die Gesundheit sozial Benachteiligter engagieren. Es werden Vertreter/-innen von Politik, Krankenkassen, Wissenschaft, öffentlichem Gesundheitsdienst, Ärzteschaft, Pflege sowie Betroffene, Betreuende und praktisch Tätige zusammentreffen. Konzepte einer evidenzbasierten Gesundheitsförderung können ausgetauscht und neue, praxisorientierte und angemessene Strategien der Qualität entwickelt werden. Wir laden Sie herzlich ein, die Gesundheit von armen Menschen durch einen breiten, öffentlichkeitswirksamen Kongress Armut und Gesundheit zu verbessern.