25.06.2012
Sexualität als Problembereich im Gefängnis
Mehrteilige Reihe: Gesundheitsförderung in Justizvollzugsanstalten, Teil 5
Heino Stöver, Fachhochschule Frankfurt, Institut für Suchtforschung
Schlagwörter:Inhaftierung, psychische Gesundheit, Setting, sexuelle Gesundheit
Die Gesundheitsrisiken in Justizvollzugsanstalten sind andere als außerhalb der Einrichtungen. Überproportional viele Infektionserkrankungen und ein hohes Suchtpotenzial lassen sich bei den Insassen finden. Dass die Umsetzung einer ganzheitlichen Gesundheitsförderung für Inhaftierte gelingen kann, zeigt das kürzlich als Good Practice-Beispiel ausgezeichnete Projekt SPRINT. Gesundheitsfördernde Justizvollzugsanstalten können einen wesentlichen Beitrag zur Verminderung sozial bedingter Ungleichheit leisten.
Welche Probleme sich in Justizvollzugsanstalten zeigen und was im Hinblick der Etablierung gesundheitsfördernder Strukturen in Justizvollzugsanstalten getan werden muss, zeigt die fünfteilige Artikelserie von Prof. Dr. Heino Stöver (Fachhochschule Frankfurt am Main) zum Thema „Gesundheitsförderung in Haft“. Die einzelnen Teile der Serie erscheinen im zweiwöchentlichen Rhythmus.
Sexualität als Problembereich im Gefängnis
Eine grundsätzliche Beeinträchtigung der seelischen Gesundheit männlicher und weiblicher Gefangener betrifft Grundbedürfnisse wie den Verlust sozialer Sexualität mit den Folgen der Reduzierung auf Selbstbefriedigung, Objektivierung des anderen Geschlechts und Stimulation gleichgeschlechtlicher Sexualkontakte. Durch eine Verobjektivierung des weiblichen, z. T. auch des männlichen Körpers in Form von Postern an den Zellenwänden und einer starken Präsenz sexualitätsbezogener Gesprächsinhalte drückt sich der entfremdete Umgang mit den eigenen sexuellen Bedürfnissen aus. Der Objektstatus des sexualisierten Körpers reduziert wiederum die eigene Empfindungsspanne und verleugnet die mit partnerInbezogener Sexualität assoziierten Bedürfnisse nach Nähe, Gemeinsamkeit, Entspannung, Befriedigung.
Das Dilemma besteht in der Allgegenwärtigkeit von Sexualität im Alltag und der stark eingeschränkten Befriedigung und letztlich erzwungenen Milieuanpassung sexueller Bedürfnisse. Daraus erwachsen Spannungen, Frustrationen, Aggressionen, sexualisierte Gewaltphantasien. Vorhandene Probleme mit diesem Dilemma können nicht besprochen werden, weil weder informelle noch offizielle Foren im Vollzug zur Verfügung stehen. Zwar existieren Modelle in Strafanstalten, die im Rahmen von Langzeitbesuchen auf eine Ermöglichung auch sexueller Kontakte unter (Ehe-)PartnerInnen zielen (z. B. JVA Werl, JVA für Frauen Vechta) und lockerungsberechtigte Häftlinge können im Urlaub sexuelle Kontakte haben. Doch dies sind vereinzelte und isolierte Möglichkeiten, partnerInnenorientierte Sexualität zu leben. Neben der bedürfnisorientierten Sicht von Sexualität in Haft stellt sich auch die Frage nach dem Recht auf Erfüllung eines Kinderwunsches für Inhaftierte und deshalb die Unterstützung sexueller Kontakte zu ihren Partnern.
In Haft ist Sexualtät ein Tabu: Symbolisierungen sind allgegenwärtig: „Unterschwellig scheint das ‚Verbot‘ der Ausübung von Sexualität nach wie vor als Teil der Strafe angesehen zu werden“ (Schwermer 1995, 55). Weil Sexualität individuell abgespalten werden muss und die Thematik Sexualität im Vollzug offiziell ausgeblendet wird, finden alle Formen gelebter sozialer Sexualität verdeckt statt. Es gibt eine Realität von gleichgeschlechtlicher Sexualität, die in einem homophobischen Kontext kaum thematisierbar ist. Der Geheimhaltungsdruck verstärkt sich vor allem dann, wenn die in Haft gelebten homosexuellen Kontakte nicht dem eigenen sexuellen Selbstverständnis „heterosexuell“ entsprechen, was bei vielen Inhaftierten der Fall sein wird, die in der Inhaftierungszeit in Ermangelung heterosexueller Möglichkeiten homosexuelle Kontakte als „Notlösung“ praktizieren.
Sozio-kulturelle Barrieren einer Zwangsheterosexualität als gesellschaftliche Normalität und Homophobie wirken in dieser doppelten Realität der sexuellen Identität, die sich in der praktizierten Sexualität im Vollzug nicht wiederfindet. Wenn diese „Notlösungen“ über lange Zeit zur Gewohnheit sexueller Aktivität werden, repräsentieren sie Normalität unter den Inhaftierten, ohne offizielle Anerkennung und Verantwortungsübernahme. So entwickelt sich Homosexualität als Dunkelfeld, wo Prostitution z. B. zur Drogenbeschaffung oder Vergewaltigungen stattfinden ohne offen als Realität anerkannt zu werden.
Gerade unter dem Aspekt „Infektionsschutz“ erhält die verdeckte gleichgeschlechtliche Sexualität Relevanz. Während weibliche Homosexualität als wenig infektionsrisikobehaftet gilt, ist männliche Homosexualität aufgrund hochriskanter Sexualpraktiken aus infektionsprophylaktischer Sicht als möglicher Transmissionsweg zu bewerten. Müller (1997, 356 f.) macht erhöhte HIV-Risiken für Männer aus, die gelegentlich mit Männern Sex haben, die auch auf andere sexuell übertragbare Krankheiten anzuwenden sind und gerade auch im Strafvollzug besondere Bedeutung erlangen: „es findet keine Identifikation mit den „schwulen Risiken“ der HIV-Infektion statt“. Deshalb wird das konkrete HIV-Risiko oft unterschätzt oder negiert, insbesondere bei Jugendlichen spielen die Lust am Abenteuer und Unverletzlichkeitsphantasien eine Rolle.
Zum defizitären Selbstbewusstsein kommen Selbstablehnung, Selbsthass, starke Scham- und Schuldgefühle hinzu, was dann die entscheidende Ursache für mangelnde Kommunikations- und Aushandlungsfähigkeit bezüglich Sexualität insgesamt und „Safer Sex“ im Besonderen sein kann. Dies führt mit hoher Wahrscheinlichkeit zur verstärkten Anpassung an Initiativen und Wünsche der Sexualpartner, z. B. nach dem „unsafen Sex“.
Selbst wenn eine Zugänglichkeit zu Kondomen und wasserlöslichem Gleitmittel in der Anstalt gewährleistet ist, was nicht durchgängig selbstverständlich, kostenlos oder zumindest kostengünstig, niedrigschwellig, vertraulich und anonym der Fall ist, lässt sich angesichts der abgespaltenen und häufig verleugneten Realität von gelebter Sexualität von den einzelnen Inhaftierten ein formulierter Bedarf an Kondomen nicht erwarten. Allein ein niedrigschwelliger und anonymisierter Zugang zu Kondomen könnte den individuellen Konflikt mildern und eine Annahmebereitschaft als Infektionsschutz steigern. Dieser Zugang ist jedoch in den meisten Anstalten nicht umgesetzt: vorwiegend sind Kondome beim Drogenberater, Seelsorger, Sozialarbeiter, Sanitäter oder Kaufmann erhältlich (in der Regel alle zwei Wochen), oder sie sind beim Arzt verfügbar (setzt Arzttermin voraus). Vereinzelt werden Kondome auch beim Sozialdienst ausgelegt.
Knapp (1996, 371) zeigt auf, dass ein Drittel der von ihm befragten Gefangenen eine Verfügbarkeit von Kondomen in den ihnen selbst bekannten Justizvollzugsanstalten verneint (vgl. bestätigend europäische Übersicht: Perkins 1998). Auch wenn das OLG Koblenz in NStZ 1997, 360 festgestellt hat, dass die Anstalten nicht zur kostenlosen Abgabe von Kondomen verpflichtet sind, sollten Kondome zur Vermeidung der Übertragung von Infektions- und Geschlechtskrankheiten - wie in mehreren Anstalten praktiziert - anonym, kostenlos und vor allem leicht zugänglich abgegeben werden (zust. Beschluss des 12. Strafverteidigertages StV 1988, 275; Michels KJ 1988, 425); mindestens sollte den Gefangenen aber die Möglichkeit eingeräumt werden, Kondome unbeobachtet und preiswert zu erstehen (Siegel ZfStrVo 1989, 159, abl. Eberbach, in: Schünemann/Pfeiffer 1988, 254).
Literatur
Perkins, S. (1998): Access to Condoms for Prisoners in the European Union. National AIDS and Prison Forum. London