24.01.2013
Soziale Unterschiede bei Körperkomposition, Bewegungsverhalten und motorischem Entwicklungsstand
Studie im Rahmen der Schuleingangsuntersuchung
Claudia Augste, Institut für Sportwissenschaft, Universität Augsburg
David Jaitner, Institut für Bewegung und Philosophie, Sporthochschule Köln
Ulrich Storr, Stadt Augsburg, Gesundheitsamt
Schlagwörter:Bewegungsförderung, Bildung, Kindesentwicklung, Kultursensibilität, Migration, Schule, Soziallage, Studie
Das Vorschulalter nimmt aus entwicklungs- und lerntheoretischer Hinsicht eine exaltierte Stellung innerhalb der kindlichen Biographie ein, die durch die Transition zwischen Kindergarten und Schulsystem eine bedeutende Zäsur und zusätzliche lebensweltliche Komplexität erfährt. Der Zeitpunkt für diesen Übergang orientiert sich dabei grundsätzlich an der kalendarischen Altersgrenze des sechsten Lebensjahres, die endgültige Einschätzung der Schulfähigkeit und damit verbundener Kompetenzen wird jedoch mittels Schuleingangsuntersuchungen durch die kommunalen Gesundheitsämter festgesetzt.
Innerhalb dieser juristisch obligatorischen Untersuchungen, die bedingt durch die föderale Struktur des Bildungssystems von Bundesland zu Bundesland differieren, werden neben der Dokumentation der Teilhabe an verpflichtenden Präventionsmaßnahmen und der Erfassung körperlich-medizinischer Messgrößen elementare Prognosevariablen eines potentiell erfolgreichen Schulbesuchs erfasst. Neben Aufgaben zur Beurteilung des emotionalen, sozialen und kognitiven Entwicklungsstandes werden dabei auch Tests zur alltagsbezogenen Koordination, Fein- und Graphomotorik eingesetzt. Berücksichtigt man in diesem Zusammenhang zusätzlich die positive Korrelation von bewegungsbezogen-sportlicher Aktivität und motorischer Leistungsfähigkeit im Kindesalter, so erscheint sportwissenschaftlich bzw. medizinisch begründet eine Fokussierung des Bewegungsverhaltens und der motorischen Entwicklung erstrebenswert:
- Entwicklungspsychologische Relevanz: Bewegung und damit verbunden ein bestimmtes motorisches Kompetenzniveau ist das kindliche Primärpotential zur aktiven Erschließung der personalen und materialen Umwelt.
- Lerntheoretische Relevanz: Bewegungsverhalten und -fähigkeiten haben einen positiven Einfluss auf die Fähigkeit zu lernen. Physiologische und neuronale Verstärkungen durch Bewegung sind dabei für die kognitive und sprachliche Entwicklung belegt. Minderentwickelte motorische Kompetenzen und psychomotorische Auffälligkeiten können das soziale Wohlbefinden eines Kindes negativ beeinflussen und die Lern- und Leistungsfähigkeit beeinträchtigen.
- Gesundheitspräventive Relevanz: Bewegungsmangel und motorische Defizite im Kindesalter sind Risikofaktoren bzw. Prädiktoren für Morbidität im Jugend- und Erwachsenenalter. In besonderem Maße zeigt sich dies durch Übergewicht und Adipositas, Überbelastungen des Halte- und Stützapparates und Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems.
Konträr zur dargelegten Bedeutsamkeit ist jedoch bekannt, dass sich die Kinder bereits im Vorschulalter bezüglich des Aktivitätsverhaltens und der motorischen Leistung sehr stark voneinander unterscheiden. Zusätzlich weisen seit einigen Jahren sowohl die Daten vielfältiger Einschulungsuntersuchungen des Öffentlichen Gesundheitsdienstes als auch der sportwissenschaftlichen Empirie verstärkt auf motorische Entwicklungsverzögerungen und gesundheitliche Störungen in vorschulischen Altersstufen hin. Diese dokumentieren für die kinder- und jugendbezogene Datenlage ab dem Schulalter deutliche Korrelationen zu sozioökonomisch-kulturellen Einflussvariablen und bewegungsbezogen-sportlicher Aktivität, finden jedoch für die vorschulische Zielgruppe der Studie nur gering untersuchte Entsprechung.
In Verknüpfung der essentiellen Relevanz für die Gesamtentwicklung einer möglichst erfolgreichen Partizipation innerhalb des Schulsystems und der altersbezogen geringen Datenlage sollte deshalb in einer groß angelegten Querschnittstudie evaluiert werden, inwiefern unterschiedliche soziale Faktoren das Bewegungsverhalten und die Motorik von Kindern im späten Vorschulalter beeinflussen.
Zusammenhang zwischen den sozioökonomischen und kulturellen Differenzen und der körperlichen Entwicklung
Sozioökonomische und kulturelle Differenzen als Ursachengeflecht für unterschiedliche Entwicklungsverläufe von körperlicher Entwicklung, Bewegungsverhalten und Motorikniveau sind für das schulische Kinder- und Jugendalter umfassend empirisch belegt und manifestieren sich für die vorschulische Zielgruppe der vorgestellten Studie in weiten Teilen.
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Betrachtet man die Verteilung auf BMI-Gruppen, so fällt auf, dass mit 82% der Anteil an normalgewichtigen Kindern im Vergleich zur regionalen Datenlage der Stadt Augsburg erfreulicherweise relativ hoch ist. In Gegenüberstellung mit den Ergebnissen einer Prävalenzanalyse im Rahmen der Schuleingangsuntersuchung des Jahres 2006 ist der Anteil an übergewichtigen Kindern um 4,1% gesunken und das Ausmaß an unter- und übergewichtigen Kindern mit jeweils 9% aktuell sogar unterhalb der allgemeinen empirischen Norm angesiedelt. Dies zeigt, dass regional intendierte bzw. initiierte Maßnahmen (Gesundheitsamt Augsburg: Entwicklung und Implementierung eines kommunalen Präventionskonzeptes) positive Ergebnisse erzielen können. Aus gesellschafts- und gesundheitspolitischer Sicht gilt es, neben den akuten körperlichen, psychischen und psychosozialen Negativwirkungen während der juvenilen Entwicklungsphasen, auch die zeitlich andauernde Prävalenz von Übergewicht und Adipositas bis in das Erwachsenenalter und die damit verbundenen Folgemorbiditäten zu berücksichtigen. Der Zusammenhang zwischen überhöhtem BMI, inaktivem Bewegungsverhalten (geringe Bewegungszeit im Freien, erhöhter Medienkonsum) bzw. verminderter motorischer Leistungsfähigkeit ist für die Altersgruppe bekannt und manifestiert sich auch in der vorliegenden Studie.
Öffentlichkeitsarbeit
Zudem sollte hierbei berücksichtigt werden, dass alle motorischen Testaufgaben sehr wohl durch Übergewicht negativ beeinflusst waren, welches wiederum bei Kindern aus bildungsfernen und nicht ausschließlich deutschsprachigen Elternhäusern überzufällig häufig auftrat. Deshalb sollte Bewegungserziehung als Grundlage einer vorschulischen ganzheitlich-präventiven Erziehung in der Institution Kindergarten, zu der alle diese Kinder Zugang haben, genutzt werden. Während beim Fahrradfahren nur wenigen Kindern mit gemischtem Sprachhintergrund bzw. aus bildungsfernem Milieu diese Form der aktiven Erkundung und Wahrnehmung der näheren Umgebung im Vorschulalter noch versagt war, konnte nur knapp ein Viertel der Kinder mit nicht ausschließlich deutscher Familiensprache bereits vor der Einschulung schwimmen. Dies bedingt sich jedoch wie dargelegt nicht durch einen geringeren motorischen Entwicklungsstand, sondern möglicherweise durch den kulturell unterschiedlichen Stellenwert dieser Kompetenz. Ähnlich spezifizierte sich die Verteilung auch in Familien mit geringem Sozialstatus, so dass angenommen werden muss, dass auch finanzielle Aspekte die Teilnahme an Schwimmkursen beeinflussen. Sieht man zusätzlich die Abhängigkeit der Schwimmfähigkeit von der elterlichen Schulbildung und berücksichtigt in diesem Zusammenhang, dass aktuell nur etwa zwei Drittel der Kinder und Jugendlichen die lebensnotwendige Kompetenz der Schwimmfähigkeit beherrschen, so könnte eine Integration des Schwimmunterrichts in die vorschulische Bildung angedacht werden. Auf alle Fälle sollte die Schließung öffentlicher Bäder und teilweise einhergehend die Reduzierung des schulischen Schwimmunterrichts kritisch überdacht werden.