30.01.2015
Steigende Mieten und Yogakurs statt Sozialberatung
Gentrifizierung als gesundheitlicher Risikofaktor sozial benachteiligter Älterer
Birgit Wolter, Institut für Gerontologische Forschung e.V.
Schlagwörter:Kommunen, Sozialraum, Teilhabe, Ältere
Während zahlreiche Kommunen unter dem Rückgang ihrer Bevölkerung leiden, verzeichnen insbesondere Universitäts- und Großstädte in Deutschland einen Bevölkerungszuwachs. Urbanes Wohnen gewinnt zunehmend an Bedeutung, nachgefragt werden vor allem Altbauwohnungen in sanierten Innenstadtlagen (Adam & Sturm 2014). Eine hohe Nachfrage nach Wohnungen in bestimmten Stadtteilen hat zur Folge, dass Mieten und Immobilienpreise steigen und damit für einkommensschwache Bevölkerungsgruppen nicht mehr bezahlbar sind. Einkommensstarke Bevölkerungsgruppen ziehen zu und ein Prozess der Gentrifizierung beginnt, d. h. ein „Austausch von statusniedrigen durch statushöhere Bevölkerungsgruppen“ (Holm 2014: 277). Diese Entwicklung belastet insbesondere die langjährige Bewohnerschaft, die sich - häufig im Besitz von günstigen Mietverträgen - einem wachsenden Verdrängungsdruck ausgesetzt sieht.
Im Zuge der Aufwertung von Quartieren erleben ökonomisch schwache Menschen häufig zunächst ihre soziale und räumliche Ausgrenzung, etwa weil die soziale Teilhabe oder die Versorgung mit Alltagsgütern im Quartier nicht mehr oder nur noch eingeschränkt möglich sind. Der Fortzug aus dem Quartier führt dann im Allgemeinen in weniger nachgefragte (und attraktive) Wohnlagen, z. B. an den Stadtrand oder in unsanierte Wohngebiete. Alte Menschen werden durch den Prozess der Gentrifizierung zusätzlich stark belastet, weil sie überwiegend in der vertrauten Wohnung und Umgebung alt werden möchten (zum Konzept des „Ageing in place“ vgl. Rowles & Ravdal 2002).
Warum sind Exklusion und Gentrifizierung gesundheitliche Risikofaktoren für sozial benachteiligte Ältere?
Mit zunehmendem Alter beeinflussen die Gegebenheiten in der Wohnumwelt die Voraussetzungen für gesundes, autonomes Altern in wachsendem Maße. Die World Health Organisation (WHO) verweist in ihrem Programm der „Agefriendly Cities“ auf die Bedeutung von altersfreundlichen Lebenswelten und Städten für Gesundheit und Teilhabe alter Menschen. Dabei sind gerade alte Menschen mit geringen Ressourcen (körperlich/gesundheitlich, ökonomisch, sozial) besonders stark auf eine unterstützende räumliche und soziale Umwelt angewiesen.
Die Aufwertung einer Wohngegend führt meist dazu, dass sich die Angebotslandschaft und Infrastruktur auf die Ansprüche der ökonomisch stärkeren Zielgruppen einstellt. Alte Menschen mit geringem Haushaltseinkommen können ihre Alltagsbedürfnisse und Wünsche nach Teilhabe im Quartier nur noch eingeschränkt erfüllen. Der Zugang zu Hilfe- oder Präventionsangeboten wird durch den Wegfall vertrauter Strukturen und Personen häufig zusätzlich erschwert. Das Bedürfnis, andere Menschen in ähnlichen Lebenslagen oder mit ähnlichen Lebensstilen in der Nähe zu haben („desire for sameness“), kann immer weniger befriedigt werden (Phillipson 2010: 600 ff.).
Der Verlust sozialer Netzwerke, identitätsstiftender Beziehungen und hilfreicher Angebote (Yogakurs statt Sozialberatung) trifft sozial benachteiligte alte Menschen umso mehr, da sie wenige Ressourcen besitzen, um auf diese Entwicklungen zu reagieren. Soziale Ungleichheit und Ausgrenzung werden dadurch verstärkt. Eine unsichere Wohnsituation bzw. die Sorge vor Mieterhöhungen stellen zudem eine hohe psychische Belastung dar. Gleichzeitig sind die Möglichkeiten von älteren Menschen mit geringem Einkommen, eine andere, bestenfalls altersgerechte Wohnung auf dem freien Wohnungsmarkt zu finden, stark eingeschränkt.
Sowohl der Verbleib in einem sich solcherart verändernden Quartier als auch der Umzug in eine neue Wohnumgebung birgt erhebliche gesundheitliche Risikofaktoren für vulnerable Zielgruppen. Der Verlust sozialer Kontakte kann zu Isolation, Rückzug und Einsamkeit führen. Ein Umzug im Alter kann, vor allem wenn er ungewollt erfolgt, zudem ein kritisches Lebensereignis darstellen, das physisch und psychisch belastend wirkt. Die Auswirkungen von städtebaulicher Aufwertung und Gentrifizierung auf die Gesundheit und Teilhabechancen alter Menschen sind bislang nur wenig systematisch untersucht. Die bekannten Zusammenhänge zwischen einer förderlichen Wohnumwelt und gesundem Altern begründen aber bereits jetzt die Forderung, die Folgen von Aufwertungsprozessen durch präventive Strategien zu mildern.
Sozialraumorientierte Wohnumfeldanpassung als Strategie
Die Aufwertung eines Quartiers sollte mit Augenmaß erfolgen, d. h. räumliche und soziale Barrieren sollten abgebaut, Angebote den Bedarfen angepasst und die Bausubstanz erneuert werden. Dabei sollten aber die bestehenden Erfordernisse des Quartiers und der Bewohnerschaft, besonders derjenigen, die auf ein unterstützendes Wohnumfeld angewiesen sind, im Zentrum stehen. Der Kommune kommt bei diesen städtebaulichen Entwicklungsprozessen eine Steuerungsrolle zu. Eine enge Zusammenarbeit von Stadtentwicklung, Gesundheits- und Sozialverwaltung ist eine Voraussetzung, um sowohl die planerischen als auch die sozialen und gesundheitsförderlichen Belange zukunftsorientiert, z. B. in einem quartiersbezogenen Leitbild, zu berücksichtigen.
- Strategie „Partizipation und sozialraumbezogene Bedarfsermittlung“
Bedarfe und Defizite müssen vor Ort erhoben werden und die Bewohnerschaft an den Aufwertungsprozessen aktiv beteiligt werden. Die entsprechenden Beteiligungsinstrumente, wie Zukunftswerkstätten, Bewohnergremien oder Stadtteilkonferenzen sind bekannt und erprobt. Damit im Sinne der Partizipationsstufen (Unger & Wright 2007) eine tatsächliche Beteiligung der Bevölkerung erfolgt, sollten eine einfache Sprache (Tipps zu leichter Sprache) verwendet, transparente Strukturen geschaffen und wichtige Multiplikatorinnen und Multiplikatoren eingebunden werden. Ein Beispiel für ein niedrigschwelliges Beteiligungsangebot für ältere Menschen sind die Kiezspaziergänge in Moabit, bei denen Defizite im Quartier erhoben und vor Ort diskutiert werden.
- Strategie „Kooperative Leitbildentwicklung“
Die Einigung auf ein verbindliches Leitbild sollte die Grundlage für die weitere Quartiersentwicklung sein. Hierzu sollte ein starkes, bereichsübergreifendes Bündnis zwischen der Kommune, lokalen Akteuren, Privateigentümerinnen und -eigentümern von Immobilien und Wohnungswirtschaft sowie der Bewohnerschaft geschlossen werden. Die frühzeitige Kooperation aller beteiligten Gruppen an der Entwicklung eines Quartiers fördert die Nachhaltigkeit, soziale Verträglichkeit und Akzeptanz von Veränderungen. Dabei tragen die kommunalen Vertreterinnen und Vertreter die Verantwortung für die am Gemeinschaftswohl orientierte Prozesssteuerung und Moderation. Ein Beispiel für die Durchführung eines kommunalen Dialogs unter Beteiligung der unterschiedlichen Akteursgruppen bietet das 10. Sozialpolitische Hearing der Stadt Kiel.
- Strategie „Gezielte Implementierung von gesundheitsförderlichen und Teilhabe-Angeboten für vulnerable Zielgruppen“
Eine gezielte Implementierung und Förderung von Angeboten für vulnerable Zielgruppen in Quartieren, die sich im Aufwertungsprozess befinden, kann die Ausgrenzung von benachteiligten alten Menschen verhindern oder mildern. Die Kommune sollte ihre Handlungsmöglichkeiten hier nicht ohne Not aus der Hand geben, z. B. durch die Privatisierung öffentlicher Angebote. Zudem sollten ressourcenstarke Akteure und Bewohnerinnen und Bewohner im Quartier zum Engagement für vulnerable Bevölkerungsgruppen ermutigt werden. Ein Beispiel für die Förderung von Ehrenamt und den Transfer von Sozialkapital ist das Projekt „Q8“ der Evangelischen Stiftung Alsterdorf in Hamburg.
Weitere Informationen zum Thema können Sie den Seiten
des Instituts für Gerontologische Forschung entnehmen.
Für weiterführende Literaturhinweise klicken Sie bitte auf "mehr"
Adam, B.; Sturm, G. (2014) Was bedeutet Gentrifizierung und welche Rolle spielt die Aufwertung städtischer Wohnbedingungen? In: BBSR. Zwischen Erhalt, Aufwertung und Gentrifizierung. Informationen zur Raumentwicklung. Heft 4, 267 - 275
Holm, A. (2014) Gentrifizierung - mittlerweile ein Mainstreamphänomen? In: BBSR. Zwischen Erhalt, Aufwertung und Gentrifizierung. Informationen zur Raumentwicklung. Heft 4, 277-289
Phillippson, C. (2010) Ageing and Urban Society: Growing Old in the „Century of the City“. In: Dannefer, D.; Phillipson, C. (Hg.) The SAGE Handbook of Social Gerontology. London. 597-606
Rowles, G.; Ravdals, H. (2002) Ageing, place and meaning in the face of changing circumstances. In: Weiss, R.; Bass, S. (Hg.) Challenges of the Third Age: Meaning and Purpose in Later Life. Oxford: Oxford University Press
Unger, H. v.; Wright, M. (2007): Stufen der Partizipation in der Gesundheitsförderung. Ein Modell zur Beurteilung von Beteiligung. Infodienst für Gesundheitsförderung 3-2007, S. 4-5