23.09.2019
STREETWORK+: Ein Gesundheitsprogramm für junge obdachlose Menschen
Claudia Lange, Off Road Kids Jugendhilfe gGmbH
Miriam Lossau, BAHN-BKK
Schlagwörter:Gesundheitsförderung, Obdachlosigkeit, Soziale Arbeit
In Deutschland leben aktuellen Studiendaten des Deutschen Jugendinstitutes zufolge etwa 37.000 junge Menschen unter 27 Jahren ohne festen Wohnsitz. Gründe für den Weg in die Wohnungs- oder Obdachlosigkeit sind häufig problembehaftete Lebenslagen innerhalb der Herkunftsfamilien, wie körperliche oder sexuelle Gewalterfahrungen, emotionale Vernachlässigung, psychische oder Suchtmittelerkrankungen, aber auch die Beendigung der Jugendhilfe mit Eintritt in die Volljährigkeit.
Obdachlosigkeit: Gesundheitsrisiken und medizinische Regelversorgung
Der Lebensraum „Straße“ birgt viele Gesundheitsrisiken. Langanhaltende Mangelernährung, prekäre hygienische Verhältnisse oder häufiger Suchtmittelabusus führen zu einem erhöhten Infektionsrisiko für Atemwegs-, Magen-Darm-, Zahn- und Hauterkrankungen - oftmals mit chronischem Verlauf. Viele der jungen Menschen weisen auch psychische Störungen oder Suchterkrankungen auf. Der Missbrauch von legalen und illegalen Suchtmitteln dient häufig als Selbstmedikation gegen Traumatisierungen. Darüber hinaus haben Straßenjugendliche ein hohes Risiko, sich mit sexuell übertragbaren Erkrankungen wie HIV, HPV oder Hepatitis zu infizieren, beispielsweise durch ungeschützten Sexualkontakt und/oder Prostitution. Insbesondere junge, wohnungslose Frauen laufen Gefahr, Opfer von sexueller Ausbeutung zu werden. Für sie erhöht sich aufgrund mangelnder Verhütungsmöglichkeiten und/oder -kompetenzen die Wahrscheinlichkeit, ungewollt schwanger zu werden.
Grundsätzlich steht wohnungs- oder obdachlosen Menschen der Zugang zu Regelversorgungsstrukturen des Gesundheitssystems offen. Erfahrungen zeigen jedoch, dass ein erheblicher Teil das medizinische Versorgungsangebot nur unzureichend in Anspruch nimmt. Dies betrifft auch diejenigen Personen, die über einen Krankenversicherungsschutz verfügen. Die Gründe hierfür sind vielfältig: Angst vor Arztbesuchen generell sowie Angst vor schmerzhaften Behandlungen und Stigmatisierung, aber auch Unwissenheit in Bezug auf das Leistungsspektrum sowie die Kostenübernahmemöglichkeiten des Gesundheitssystems oder die Priorisierung anderer Bedürfnisse, wie z.B. die Sicherstellung eines Schlafplatzes. In Anbetracht dessen stellt sich die Frage, wie Straßenjugendliche in dieser prekären Lebenssituation in ihren gesundheitsrelevanten Entscheidungsprozessen unterstützt und motiviert werden können.
STREETWORK+: Gesundheitsberatung für junge obdachlose Menschen
Eine Studie der Universität Bielefeld zur Gesundheitskompetenz in der bundesdeutschen Bevölkerung zeigt, dass bei jungen Menschen zwischen 15 und 29 Jahren enorme Wissensdefizite in Bezug auf Körperwissen und Gesundheits- sowie Präventionsthemen bestehen, insbesondere bei Personen mit eher niedrigem Sozialstatus und Bildungsniveau. Das Gesundheitsförderungs- und Präventionsprogramm „STREETWORK+“ zielt darauf ab, die Gesundheitskompetenzen von jungen obdachlosen Menschen zu stärken sowie die erwähnten Gesundheitsrisiken (und deren Folgen) zu mindern. Ein stabiler Gesundheitszustand erhöht die Erarbeitungschancen einer tragfähigen Lebens- bzw. Zukunftsperspektive und bildet somit einen elementaren Grundpfeiler der alltäglichen Straßensozialarbeit der Off Road Kids Stiftung. Das Projekt verfolgt einen multimodalen Ansatz: Kernstück ist die Ausbildung der Straßensozialarbeitenden zu „Gesundheitslotsinnen und Gesundheitslotsen“. Mithilfe von qualitativ hochwertigen Fortbildungen zu ausgewählten medizinischen Schwerpunktthemen soll das sozialarbeiterische Handlungs- und Beratungsspektrum um präventionsorientierte Aufklärungsarbeit erweitert werden.
Im Mittelpunkt stehen vier Themenkomplexe:
- Sexualität und Schwangerschaft
- Infektionsschutz inklusive Impfungen
- psychische Gesundheit
- Sucht
Die niedrigschwellige, aufsuchende Beratung im Rahmen der Straßensozialarbeit soll die Zielgruppe hinsichtlich milieuspezifischer Gesundheitsrisiken aufklären und sensibilisieren. Die jungen Menschen sollen dazu befähigt werden, das Thema Gesundheit in ihren Lebensalltag einzubetten und den Risiken eigenverantwortlich und kompetent mit entsprechenden Präventionsstrategien zu begegnen, etwa durch die konsequente Benutzung von Kondomen oder Hygieneartikeln.
In der diskreten Einzelfallarbeit werden die persönlichen Ressourcen jedes jungen Menschen berücksichtigt und auf eine größtmögliche Partizipation geachtet. Die Beratungssystematik wird der individuellen Bedürfnislage angepasst und beruht auf der freiwilligen Annahme der Angebote durch die Zielgruppe.
Die Gesundheitslotsinnen und Gesundheitslotsen motivieren die Klientinnen und Klienten für die Inanspruchnahme von medizinischen Versorgungsstrukturen, begleiten sie - sofern erforderlich und gewünscht - zu ambulanten, stationären oder auch mobilen medizinischen Versorgungsangeboten und unterstützen sie in Gesprächen mit Ärzten und Ärztinnen. Zudem werden Informationsmaterialien in leicht verständlicher Sprache, etwa von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, sowie Präventionsartikel wie Kondome, Verbandsmaterial, Desinfektionsmittel oder Zahnpflegesets an die Zielgruppe ausgeteilt.
Auf diese Weise fördert STREETWORK + das Erlernen eines selbstverantwortlichen Gesundheitsverhaltens als Grundvoraussetzung für eine stabile Lebensführung.
STREETWORK+ läuft derzeit an den Standorten Berlin, Hamburg, Köln, Dortmund und Frankfurt am Main. Seit Projektbeginn im Jahr 2017 wurden über 10.000 Beratungsgespräche mit mehr als 3.000 Klientinnen und Klienten geführt. Das Projekt wird von der BAHN-BKK auf Basis des Präventionsgesetzes jährlich gefördert.
Quellen
- Deutsches Jugendinstitut (2017). Straßenjugendliche in Deutschland - eine Erhebung zum Ausmaß des Phänomens. Endbericht - zentrale Ergebnisse der 2. Projektphase. Online verfügbar. Zugriff am 30.07.2019.
- Flick U., Röhnsch G. (2008). „Ziemlich oft frag’ ich mich dann, wie’s ist, wenn man mal so richtig gesund ist.“ - Gesundheitsvorstellungen obdachloser Jugendlicher. In: Hackauf H., Jungbauer-Gans M. (eds) Gesundheitsprävention bei Kindern und Jugendlichen. VS Verlag für Sozialwissenschaften.
- Flick, U. & Röhnsch, G. (2009). Jugendobdachlosigkeit. Straßenleben von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland. Sozial Extra, 33 (5-6): 49-52.
- Huber, Michaela (2013). Trauma und Sucht. Von der Selbstmedikation zur Heilung: 5-6. Online verfügbar. Zugriff am 13.08.2019.
- Kaduszkiewicz, H.; Bochon, B.; van den Bussche, H.; Hansmann-Wiest, J. & van der Leeden, C. (2017). Medizinische Versorgung von wohnungslosen Menschen. Dtsch Arztebl Int 2017; 114(40): 673-9.
- Off Road Kids Stiftung (2017). STREETWORK+ Gesundheitsprogramm für Straßenkinder und junge Obdachlose. Online verfügbar. Zugriff am 30.07.2019.
- Schaeffer, D., Vogt, D., Berens, E.-M.& Hurrelmann, K. (2016). Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland. Ergebnisbericht. Universität Bielefeld.
- Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe e.V. - AGJ (2014). Junge Volljährige nach der stationären Hilfe zur Erziehung. Leaving Care als eine dringende fach- und sozialpolitische Herausforderung in Deutschland. Diskussionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe e.V. - AGJ