16.04.2012
Strukturelle Probleme gesundheitlicher Versorgung in Haft
Mehrteilige Reihe: Gesundheitsförderung in Justizvollzugsanstalten, Teil 2
Heino Stöver, Fachhochschule Frankfurt, Institut für Suchtforschung
Schlagwörter:Gesundheitsversorgung, Hygiene, Inhaftierung, Kommentar, Setting
Die Gesundheitsrisiken in Justizvollzugsanstalten sind andere als außerhalb der Einrichtungen. Überproportional viele Infektionserkrankungen und ein hohes Suchtpotenzial lassen sich bei den Insassen finden. Dass die Umsetzung einer ganzheitlichen Gesundheitsförderung für Inhaftierte gelingen kann, zeigt das kürzlich als Good Practice-Beispiel ausgezeichnete Projekt SPRINT. Gesundheitsfördernde Justizvollzugsanstalten können einen wesentlichen Beitrag zur Verminderung sozial bedingter Ungleichheit leisten.
Welche Probleme sich in Justizvollzugsanstalten zeigen und was im Hinblick der Etablierung gesundheitsfördernder Strukturen in Justizvollzugsanstalten getan werden muss, zeigt die fünfteilige Artikelserie von Prof. Dr. Heino Stöver (Fachhochschule Frankfurt am Main) zum Thema „Gesundheitsförderung in Haft“. Die einzelnen Teile der Serie erscheinen im zweiwöchentlichen Rhythmus.
Strukturelle Probleme gesundheitlicher Versorgung in Haft
Der Entzug von Freiheit an sich stellt ein Gesundheitsrisiko dar. Die vollzuglichen Belastungen von Bewegungs- und Reizarmut, Unterforderung, Versorgungscharakter der Gefängnisse tragen eher zu psychisch belastenden Symptomen von Unselbstständigkeit, Lethargie, Depressionen, Passivität, Interessen- und Mutlosigkeit bei. Die Fremdbestimmtheit und Monotonie des Alltagsgeschehens führt zu Abstumpfung und Antriebslosigkeit, das Eingeschlossensein fixiert die Aufmerksamkeit auf das eigene Körpergeschehen und verstärkt Ängste, nicht angemessen behandelt zu werden, oder im Notfall lange auf Hilfe warten zu müssen; die erzwungene Inaktivität im körperlichen wie im sozialen Bereich lässt Spannungszustände ins Leere laufen, eine der wesentlichen Ursachen von Stresserkrankungen. D. h. es findet insgesamt eine Ressourcenverringerung statt - eine Depravierung gleich der eines längeren Krankenhaus- bzw. anderen Anstaltsaufenthaltes, die letztlich abhängigkeitsfördernden Charakter hat und nicht zur Erweiterung von Handlungs- und Sozialkompetenzen beiträgt (vgl. Hillenkamp 2005, 15 f.; s. a. Hillenkamp 2006).
Die Wahrscheinlichkeit des Auftretens psychosomatischer Symptome steigt, während die Abwehrkräfte gegen Infektionen und organische Beeinträchtigungen verringert werden. Dazu kommen weitere strukturelle Gesundheitsrisiken für die Inhaftierten unter den gegebenen Bedingungen: Das gehäufte Auftreten von Problemgruppen mit spezifischen Krankheitsbildern bei Haftantritt nach Zeiten von Obdachlosigkeit, körperlicher Verelendung durch massive Abhängigkeit von legalen oder illegalen Drogen, Überbelegung, mangelnde Hygiene, deprimierende Umgebungen, oftmals kritisiertes Essen, Bedrohungen, Erpressungen und Aggressionen (nicht nur körperlicher Form sondern auch verbal, sexistisch oder rassistisch), sowie der Verlust von Privatheit und Intimsphäre tragen letztlich dazu bei, dass die seelische Gesundheit der Gefangenen verglichen mit der der Allgemeinbevölkerung weitaus häufiger gestört ist (vgl. Konrad 2011). Zwar haben diese Störungen z. T. bereits vor Haftantritt bestanden, sie werden im Vollzug häufig jedoch nicht erkannt oder adäquat behandelt und können sich in Haft noch verschlimmern.
Gleichwohl gibt es Gefangene, für die die gesundheitliche Versorgung stabilisierende Effekte hat, weil sie vorher nicht über solche Ressourcen verfügt haben (etwa regelmäßige Mahlzeiten, bessere Hygieneverhältnisse). Für viele sichtbar erfolgt bereits nach relativ kurzer Zeit bei einigen Gefangenen eine körperliche Erholung, die an bestimmten Anzeichen wie Gewichtszunahme, verbesserter Allgemeinzustand, Ansprachemöglichkeit und Beteiligung an Sportaktivitäten etc. festgemacht wird. Gelegentlich finden ernsthafte Krankheitssymptome erst nach der Inhaftierung Beachtung. Infektionskrankheiten und ein erheblich reduzierter Allgemeinzustand als Folge der Lebensbedingungen kommen besonders bei vorher Obdachlosen, Drogenkonsumenten und Alkoholikern vor. Für diese Gefangenen ist der Gang zum Arzt leichter als in Freiheit. Allerdings darf diese schnelle körperliche Erholung nicht mit einer parallel verlaufenden psychischen Verbesserung gleichgesetzt werden. Die äußeren Verbesserungen sind lediglich darauf zurückzuführen, dass es in Haft zu regelmäßiger Nahrungsaufnahme und zur Einhaltung eines geregelten Tag-Nacht-Rhythmus kommt (Keppler 1996, 83).
In den Gefängnissen leben Menschen vieler verschiedener Nationen und verschiedenster sozio-ökonomischer und kultureller Herkunft zusammen - Menschen, die oftmals schon vor Haftantritt erheblichen sozialen und gesundheitlichen Belastungen ausgesetzt waren. Bei den Gefangenen handelt es sich zum großen Teil um sozial Benachteiligte - alle Merkmale dieser Benachteiligung lassen sich in erhöhtem Masse wiederfinden: geringes Bildungs- und Ausbildungsniveau, hohe Arbeitslosigkeit, erhöhter Anteil von MigrantInnen. Dies führt zu einer im Vergleich zur übrigen Gesellschaft stark überrepräsentierten Häufung von Erkrankungen: Infektionskrankheiten wie HIV/AIDS, Hepatitis, Tuberkulose, vor allem aber auch Substanzmissbrauch und Suchterkrankungen sowie weitere psychische Störungen belasten die Gefangenen überproportional (vgl. Andersen 2004, Fazel/Danesh 2006; Fazel/ Baillargeon 2010). Die Gefängnisse sind geprägt von einer Verdichtung von Problemlagen: So finden sich im Gefängnis intravenöse Drogengebraucher etwa 80-mal häufiger, Verbreitung von Infektionen mit HIV etwa 20-mal häufiger, Hepatitis C etwa 30-mal häufiger, eine etwa 7-mal höhere Suizidrate, ein 2-4-mal häufigeres Auftreten von psychischen Störungsbildern, etwa 1,5-2-mal häufigeren Nikotingebrauch im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung (vgl. Keppler et al. 2010). Etwa 30-50% der Gefangenen gelten als ‚drogenerfahren‘ oder drogenabhängig - verglichen mit etwa 1% in der Gesamtbevölkerung. Etwa 50-75% der Gefangenen leiden unter psychischen Störungen, v. a. an Psychosen, Affekt- und Angststörungen. Der Anteil kranker und behandlungsbedürftiger Gefangener steigt stetig: Derzeit sind mehr drogenabhängige Gefangene als jemals zuvor inhaftiert, und viele von ihnen leiden unter den körperlichen und seelischen Folgen.
Welches Ausmaß Tätowieren und Piercen unter Strafgefangenen noch besitzen, lässt sich schwer abschätzen (Knapp 1996, 385; Laubenthal 2005, S. 210, vgl. auch Bammann/Stöver 2006). Obwohl verboten kommt es sicher vor, auch angesichts schlechter gesundheitlicher und hygienischer Umstände in Haft. Problematisch ist das Tätowieren und Piercen in Hinsicht auf eine Übertragung von Infektionskrankheiten (HIV und Hepatitiden), wenn mit unsterilen Nadeln gearbeitet wird. Auf diese Gefahren sollte mit Aufklärung und mit Einladung externer Tattoo-Professioneller reagiert werden (vgl. Trautmann/Stöver 2003, Deutsche AIDS-Hilfe 2010).
Das medizinische Fachpersonal steht vor Herausforderungen, die kaum mit denen einer ärztlichen Praxis in Freiheit vergleichbar sind; eher mit Schwerpunktpraxen - ohne jedoch dafür genügend ausgestattet oder ausgebildet zu sein. Selbst wenn man einen gleichen Versorgungsschlüssel (Zahl der Ärzte und Krankenpflegepersonal zu Patienten „drinnen“ und „draussen“) unterstellt, zeigt die sehr viel höhere gesundheitliche Belastung der Gefangenen Strukturen der gesundheitlichen Ungleichheit auf (vgl. Meier 2009). Ein Großteil der Arbeit des medizinischen Dienstes im Vollzug ist allein durch die Behandlung von Suchterkrankungen und deren Folgen gebunden. Diese gesundheitlichen Störungen insbesondere der drogenabhängigen Gefangenen absorbieren einen hohen Teil der medizinischen Leistungen. In einer Untersuchung der U-Haftanstalt Oldenburg wurden 76% aller medizinisch betreuten Gefangenen aufgrund ihrer Drogenproblematik (legale wie illegale Drogen) behandelt (Tielking/Becker/Stöver 2003). Schließlich müssen Gefängnisse eine sichere Umgebung für die dort lebenden und arbeitenden Menschen sein (was Gewalt angeht). Dass diese Umgebung den basalen Anforderungen von Licht, Wärme, Hygieneeinrichtungen, Ventilation und Mindestgröße des Haftraums genügt, ist eine zentrale Anforderung, die es bei Gefängnisneubauten zu beachten gilt (vgl. Seelich 2010).
Literatur
- Andersen, H.S. (2004): Mental Health in prison populations. A review - with special empahsis on a study of Danish prisoners on remand. Acta Psychiat. Scand. 110 (Suppl. 424), S. 5-59.
- Deutsche AIDS-Hilfe (2010): Tattoo und Piercing in Haft. Berlin.
- Fazel, S. & Baillargeon, J. (2010): The health of prisoners. The Lancet, Early Online Publication.
- Fazel, S.; Danesh, J. (2002): Serious mental disorder in 23 000 prisoners: A systematic review of 62 surveys. The Lancet 359, 545-550.
- Hillenkamp, Th. (2005): Der Arzt im Strafvollzug - Rechtliche Stellung und medizinischer Auftrag. In: Tag, B. (Hrsg.): Intramurale Medizin - Gesundheitsfürsorge zwischen Heilauftrag und Strafvollzug. Heidelberg: Springer.
- Keppler, K., Stöver, H., Schulte, B.; Reimer, J. (2010): Prison Health is Public Health! Angleichungs- und Umsetzungsprobleme in der gesundheitlichen Versorgung Gefangener im deutschen Justizvollzug. In: Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 2010, 53, H. 2/3: 233-244.
- Konrad, N. (2011): Neue Gesetzgebung in den Bundesländern - Auswirkungen auf die psychiatrische Versorgung von Gefangenen? In: Akzept et al. (Hrsg.): Fünfte Europäische Konferenz zur Gesundheitsförderung in Haft, Dokumentation der Konferenz in Hamburg, September 2010, Berlin.
- Laubenthal, K. (2005): Sucht- und Infektionsgefahren im Strafvollzug. In: Hillenkamp, Th.; Tag, B. (Hrsg.): Intramurale Medizin - Gesundheitsfürsorge zwischen Heilauftrag und Strafvollzug. Heidelberg: Springer.
- Meier, B.-D. (2005): Ärztliche Versorgung im Strafvollzug: Äquivalenzprinzip und Ressourcenknappheit. In: Hillenkamp, Th.; Tag, B. (Hrsg.): Intramurale Medizin - Gesundheitsfürsorge zwischen Heilauftrag und Strafvollzug. Heidelberg: Springer.
- Seelich, A. (2010): Gesundheit und Architektur am Beispiel von Gefängnissen. In: Bögemann, H.; Keppler, K.; Stöver, H. (Hrsg.; 2010): Gesundheit im Gefängnis. Ansätze und Erfahrungen mit Gesundheitsförderung in totalen Institutionen. Weinheim: Juventa Verlag, S. 229-238.
- Tielking, K.; Becker, S.; Stöver, H. (2003): Entwicklung gesundheitsfördernder Angebote im Justizvollzug. Eine Untersuchung zur gesundheitlichen Lage von Inhaftierten der Justizvollzugsanstalt Oldenburg.
- Trautmann, F.; Stöver, H. (2003): Risikominimierung im Strafvollzug. Arbeitsmaterialien zur HIV-Prävention für Praktiker/innen. Deutsche AIDS-Hilfe e.V., Berlin.