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08.05.2012

Strukturelle Rahmenbedingungen der Gesundheitsversorgung Gefangener

Mehrteilige Reihe: Gesundheitsförderung in Justizvollzugsanstalten, Teil 3

Heino Stöver, Fachhochschule Frankfurt, Institut für Suchtforschung

Schlagwörter:Gesundheitsversorgung, Inhaftierung, Kommentar, Setting

Die Gesundheitsrisiken in Justizvollzugsanstalten sind an­de­re als außerhalb der Ein­rich­tung­en. Über­pro­portional viele Infektionserkrankungen und ein hohes Suchtpotenzial las­sen sich bei den In­sas­sen fin­den. Dass die Um­set­zung einer ganzheitlichen Ge­sund­heits­för­de­rung für In­haf­tier­te ge­lin­gen kann, zeigt das kürz­lich als Good Practice-Beispiel aus­ge­zeich­ne­te Pro­jekt SPRINT. Ge­sund­heits­för­dern­de Jus­tiz­voll­zugs­an­stalten kön­nen einen wesentlichen Bei­trag zur Ver­min­de­rung so­zi­al bedingter Un­gleich­heit leis­ten.

Welche Probleme sich in Jus­tiz­voll­zugs­an­stalten zei­gen und was im Hinblick der Eta­blie­rung ge­sund­heits­för­dernder Strukturen in Jus­tiz­voll­zugs­an­stalten getan wer­den muss, zeigt die fünf­tei­li­ge Ar­ti­kel­se­rie von Prof. Dr. Heino Stöver (Fach­hoch­schu­le Frankfurt am Main) zum The­ma „Ge­sund­heits­för­de­rung in Haft“. Die einzelnen Teile der Serie erscheinen im zwei­wöchent­li­chen Rhyth­mus.

Strukturelle Rahmenbedingungen der Gesundheitsversorgung Gefangener

Die Ge­sund­heitsfürsorge für die Gefangenen liegt in der Verantwortung der Justizvollzugsbehörden. An die Stel­le von Eigenverantwortlichkeit und Selbst­be­stim­mung in der Herstellung und Er­hal­tung von Ge­sund­heit tre­ten die Für­sor­ge der An­stalt und die Verpflichtung des Gefangenen, die notwendigen me­di­zi­ni­schen Maß­nah­men zu un­ter­stüt­zen. Durch den Frei­heits­ent­zug steht der Gefangene in ei­nem be­son­deren Ab­hän­gig­keits­ver­hält­nis zum Staat wo­raus sich ei­ne besondere Verantwortung und Für­sor­ge­pflicht des Staates ge­gen­über dem Gefangenen ergibt. Die Be­deu­tung der Herstellung bzw. Er­hal­tung der somatischen und psychischen Ge­sund­heit für die Gefangenen muss als ei­ne zentrale Vor­aus­set­zung für die Wie­der­ein­glie­de­rung in das Alltags- und Er­werbs­le­ben betrachtet wer­den.

Grundsätzlich hat sich Anstaltsmedizin an den Vorgaben der Gesetzlichen Kran­ken­ver­si­che­rung zu ori­en­tie­ren - Straf­voll­zug soll pri­mär nur Frei­heit neh­men, aber nicht durch schlechtere medizinische Ver­sor­gung zu­sätz­lich be­stra­fen. Die Vergleichbarkeit der Qua­li­tät und des Umfangs intra- und extra­mu­ra­ler medizinischen Versorgung - das sog. Äquivalenzprinzip - soll gewährleistet wer­den. Die Be­grün­dung für die­ses Äquivalenzprinzip besteht ei­ner­seits im gesetzlichen Auf­trag zur An­glei­chung der Le­bens­ver­hält­nis­se und Ge­gen­wir­kung schädlicher Wir­kung­en des Frei­heitsentzuges (§ 3 Abs. 1 u. 2), so­wie an­de­rer­seits in internationalen Übereinkünften (vgl. Pont 2009 m.w.N.). Diese Grundsätze ver­lan­gen ei­ne Ori­en­tie­rung an den au­ßer­halb erprobten und bewährten Standards und Leit­li­nien als Richt­schnur intra­mu­raler Versorgungs-, Beratungs- und Behandlungsangebote. Dies betrifft auch die psy­cho-so­zia­len Hilfen in­ner­halb des Vollzuges: Hierzu sind realistische Ein­schät­zung­en und Unter­su­chun­gen über die den Gefangenen im Vollzug drohenden gesundheitlichen Risiken und dem­ent­spre­chen­de anstaltliche Maß­nah­men und Mit­tel der Risikovorsorge er­for­der­lich.

Eine wesentliche Ein­schrän­kung des Äquivalenzprinzips besteht in der Auf­he­bung des Prinzips der frei­en Arztwahl, da Kostenträger nicht die gesetzliche Kran­ken­ver­si­che­rung, son­dern die Voll­zugs­be­hör­de ist. Gefangene im frei­en Beschäftigungsverhältnis, (siehe Kom­men­tie­rung zu §62a) haben da­ge­gen die Be­rech­ti­gung, ei­nen Arzt ihrer Wahl aufzusuchen (§ 62 a). Dies bedeutet ei­ne so­wohl recht­li­che als auch praktische Besserstellung die­ser Gefangenen auf dem Ge­biet der Gesundheitsfürsorge, weil ih­nen durch Leis­tungs­ansprüche ge­gen die Kran­ken­kas­se ei­ne bes­sere me­di­zi­nische Versorgung zusteht (vgl. Kirschke 2005, S. 138).

Der Nach­teil des Konzepts der Gesundheitsfürsorge un­ter der Ägi­de der Justizvollzugsbehörden liegt einmal da­rin, dass es ei­ne erhebliche Be­las­tung der Arzt-Patient-Beziehung mit sich bringt, wenn der Arzt ers­tens in die Hierarchie des Anstaltspersonals in­te­griert ist, zwei­tens Kontrollaufgaben für Si­cher­heits­an­for­de­run­gen der In­sti­tu­ti­on wahrnimmt (z. B. Urinkontrollen, Zwangs­maß­nah­men) und drit­tens die Kon­takt­auf­nah­me des Patienten nicht frei­wil­lig erfolgt. Der Anstaltsarzt wird zum „Zwangs­an­sprech­part­ner“ (vgl. Pont u.a. 2011; Keppler 1996, 111; vgl. auch Riekenbrauck 2005, S. 33), in­ner­halb des Spannungsverhältnisses von kontroll- und sicherheitsorientierten Vorgaben und Zwängen des Voll­zu­ges und ei­ner patientenorientierten Be­hand­lung. Dieser strukturelle Wi­der­spruch fördert ge­gen­sei­ti­ges Miss­trau­en und belastet die Qua­li­tät der Gesundheitsversorgung für die Gefangenen.

Wie es aber tat­säch­lich um die Ge­sund­heit von Gefangenen bestellt ist, da­rü­ber ist auf­grund un­ge­nü­gen­der oder we­nig vergleichbarer Da­ten­er­fas­sung und For­schungsarbeiten we­nig be­kannt (vgl. für den Man­gel an Da­ten im Be­reich psy­chisch Kranker im Straf­voll­zug Foerster 2005, S. 143 f.). Immer noch gibt es kei­ne Ge­sund­heitsberichterstattung (Aus­nah­me Baden-Württemberg, siehe Meissner 2011), die de­tail­liert Aus­kunft ge­ben könnte, noch ist die ge­sund­heit­liche La­ge Gefangener Ge­gen­stand kom­mu­na­ler/re­gio­na­ler Ge­sund­heitsberichterstattung. Bekannt sind le­dig­lich Untersuchungen aus ein­zel­nen Gefängnissen, oft­mals noch von Teilpopulationen. Einige Stu­di­en haben Da­ten einzelner oder mehrerer Gefängnisse zusammengefasst - auch in internationaler Blick­rich­tung. Die Stu­di­en sind über­wie­gend querschnittsorientiert angelegt und ent­hal­ten we­nig Verlaufsdaten resp. we­nig qualitative Da­ten über risikoreiches Verhalten oder die Wahr­neh­mung und Be­wäl­ti­gung riskanter Verhältnisse, die Auf­schluss über ei­ne Risikodynamik ge­ben könnten. Überraschend viele Details ge­sund­heit­licher Versorgung er­fährt man über die Antworten der Justizministerien auf klei­ne oder große An­fra­gen in den jeweiligen Parlamenten, wenn­gleich zentrale Fra­gen un­be­ant­wor­tet blei­ben, weil kei­ne systematische Da­ten­ag­gre­gation vorgenommen wird (vgl. Bür­ger­schaft der Freien und Hansestadt Hamburg (27.08.2010). For­schung in deutschen Haftanstalten wird zu­dem oft mit dem Ar­gu­ment der personellen Über­las­tung von den Justizvollzugsbehörden abgeblockt.

Das Sys­tem der Gesundheitsversorgung sollte stärker überprüft wer­den. Effizienter als ei­ne „Selbst­über­prüfung“ durch die Fachaufsicht der Medizinalreferenten wä­re ei­ne Über­prü­fung der Ver­sor­gungs­qua­li­tät durch externe, unabhängige Gut­ach­ter, v.a. aus den Ge­sund­heits­res­sorts. Sowohl ethische als auch fachliche Standards müssten in der All­tags­pra­xis ei­ner Über­prü­fung standhalten. Leider existiert in Deutsch­land kein In­spek­to­rats­we­sen (wie z. B. in den Nie­der­lan­den), wo unabhängige, meis­tens beim Gesundheitsministerium angesiedelte Ex­per­ten die Ge­sund­heits­ver­sor­gung in Haft über­prü­fen. Dies wür­de zur Qua­li­täts­ver­bes­se­rung bei­tra­gen, je­den­falls eher als die Fachaufsicht „im eigenen Haus“ (durch Ärzte bei den Landesjustizbehörden), deren Ef­fi­zi­enz auf­grund der Interessengebundenheit frag­lich ist. Ein externes Qua­litäts­si­che­rungs­ver­fah­ren wie in Krankenhäusern oder anderen Institutionen üb­lich, findet in aller Re­gel im Ge­fäng­nis nicht statt.

Die Gesundheitsfürsorge im Vollzug, charakterisiert durch den Grund­konflikt zwi­schen Hilfe und Kon­trol­le, kann im Pro­zess ei­ner Nor­ma­li­sie­rung, d. h. ei­ner An­glei­chung der Behandlungs- und Prä­ven­tions­maß­nah­men an die Verhältnisse in Frei­heit zu ei­ner besseren Be­wäl­ti­gung gesundheitlicher Prob­le­me der Gefangenen im Vollzug bei­tra­gen. Über die Einführung extramural bewährter und erfolgreicher, „evidenz-basierter“ Behandlungs- und Pro­phy­la­xe­ansätze hinaus, muss je­doch in den Gefängnissen ein An­glei­chungsprozess grundsätzlicherer Art eingeleitet wer­den: Au­ßer­halb des Vollzuges setzt sich zu­neh­mend in der Public-Health-Debatte die Er­kennt­nis durch, nicht nur auf Krank­heit, individuelles Fehl- und Risikoverhalten ab­zu­he­ben, son­dern auch die sozialen Verhältnisse und Spezifika der Sys­te­me und Settings in ihrer In­ter­de­pen­denz und inneren Dy­na­mik auf ihr Gesundheitspotenzial einzubeziehen; al­so nicht nur re­ak­tiv die Krank­heit des Einzelnen zu be­han­deln oder bes­ten­falls Vorsorge(-unter­su­chun­gen) und Impf­pro­gram­me durchzuführen, son­dern da­rü­ber hinaus ei­ne die Res­sour­cen des Ein­zel­nen ak­ti­vie­rende Ge­sund­heits­för­de­rung zu be­trei­ben, die al­le Akteure in ei­nem be­s­tim­mten Set­ting zu in­te­grie­ren versucht.

Die gesundheitsabträglichen Lebens- und Ar­beitsbedingungen (die physischen, baulichen und orga­ni­sa­to­ri­schen Be­din­gung­en von Ge­fäng­nis) müs­sen identifiziert, thematisiert und verbessert wer­den und zwar für al­le Be­tei­lig­ten: Gefangene, aber auch Be­diens­te­te sind mit in die Überlegungen einer Ge­sund­heits­för­de­rung im Ge­fäng­nis einzubeziehen. Schließlich geht es da­rum, die In­sti­tu­ti­on Ge­fäng­nis als ein Sys­tem un­ter vielen zu begreifen und vor al­lem Verbindungen mit anderen In­sti­tu­ti­onen her­zu­stel­len (kommunale/regionale Hilfsorganisationen, Fa­mi­lie, Ar­beit etc.; vgl. Stöver 2009, Bö­ge­mann et al. 2010). Erfolgreiche Beispiele für diesen Setting-Ansatz in der Ge­sund­heits­för­de­rung sind die von der WHO (auf der Ba­sis der OTTAWA-CHARTA, die Ge­sund­heits­för­de­rung pro­gram­ma­tisch entwickelt hat) initiierten Projekte ‚Healthy Cities‘, ‚Healthy Schools‘ etc. Diese positiven Er­fah­rung­en und Ergebnisse sollten auf die Ge­fäng­nisse über­tra­gen und im Rahmen einer ‚Healthy Prisons‘-Be­we­gung umgesetzt wer­den.

Eine ausführliche Be­schrei­bung von Herrn Dr. Heino Stöver zu den rechtlichen Grund­la­gen der Ge­sund­heitsversorgung Gefangener und den Strukturen der Gesundheitsversorgung fin­den Sie hier (PDF-Do­ku­ment, 40 KB).

Literatur:

  • Bögemann, H. (2010): Wer setzt Ge­sund­heitswförderung im Ge­fäng­nis (ei­gent­lich) um? In: Bögemann, H.; Keppler, K.; Stöver, H. (Hrsg.): Ge­sund­heit im Ge­fäng­nis. Ansätze und Er­fah­rung­en mit Ge­sund­heits­för­de­rung in totalen Institutionen. Weinheim: Juventa Verlag, S. 133-136.
  • Bür­ger­schaft der Freien und Hansestadt Hamburg (27.08.2010): Große An­fra­ge und Ant­wort des Senats. Betr.: Gesundheitsfürsorge und -förderung im Justizvollzug.
  • Foerster, K. (2005): Psychisch kranke im Straf­voll­zug. In: Hillenkamp, Th.; Tag, B. (Hrsg.): Intramurale Me­di­zin - Gesundheitsfürsorge zwi­schen Heilauftrag und Straf­voll­zug. Heidelberg: Sprin­ger.
  • Kirschke, B. (2005): Geschlossener Vollzug und freies Beschäftigungsverhältnis - Zwei-Klassen-Me­di­zin? In: Hillenkamp, Th.; Tag, B. (Hrsg.): Intramurale Me­di­zin - Gesundheitsfürsorge zwi­schen Heilauftrag und Straf­voll­zug. Heidelberg: Sprin­ger.
  • Meissner, K. (2011): Gesundheitsberichterstattung in Baden-Württemberg. In: akzept et al. (Hrsg.): Fünfte Europäische Kon­fe­renz zur Ge­sund­heits­för­de­rung in Haft, Do­ku­men­ta­ti­on der Kon­fe­renz in Hamburg, September 2010, Ber­lin.
  • Pont, J. (2009): Ethische Grund­la­gen. In: Keppler, K., Stöver, H. (Hrsg.): Gefängnismedizin. Medizinische Versorgung un­ter Haftbedingungen. Stutt­gart: Thieme, S. 19-28.
  • Riekenbrauck, W. (2005): Statement. In: Hillenkamp, Th.; Tag, B. (Hrsg.): Intramurale Me­di­zin - Gesundheitsfürsorge zwi­schen Heilauftrag und Straf­voll­zug. Heidelberg: Sprin­ger, 2005.
  • Stöver, H. (2009): Healthy Prisons - Ge­sund­heits­för­de­rung als innovative Stra­te­gie. In: Keppler, K., Stöver, H. (Hrsg.): Gefängnismedizin. Medizinische Versorgung un­ter Haftbedingungen. Stutt­gart: Thieme, S. 277-289.

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