11.03.2013
Teilhabe von älteren Menschen und gemeindenahe Gesundheitsförderung für ältere Menschen
Antje Richter-Kornweitz, ehem. Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen Bremen e.V.
Thomas Altgeld, Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen Bremen e.V.
Schlagwörter:Armut, Empowerment, Kommunen, Partizipation, Setting, Sozialraum, Ältere
Aufgrund der gerade in Niedersachen regional sehr unterschiedlichen Ausprägungen des demographischen Wandels lassen sich keine Patentlösungen zur Stärkung von Gesundheitspotenzialen älterer Menschen im kommunalen Setting formulieren. Dazu sind die Ausgangslagen zu unterschiedlich ausgeprägt und die Heterogenität der Zielgruppen ist zu groß. Die Entwicklung von Handlungsansätzen muss dieser Heterogenität und der jeweiligen lokalen Situation entsprechen.
Zur Entwicklung geeigneter, zentraler Handlungsansätze eignen sich daher insbesondere Nachbarschaft und Quartier. Die Frage ihrer Größe lässt sich dabei mehr anhand der subjektiven Bedeutung, die dem nachbarschaftlichen Gefüge räumlich wie auch sozial zugesprochen wird als anhand einer bestimmten Einwohnerzahl festlegen. „Eine sinnvolle Abgrenzung sollte u.a. davon bestimmt sein, inwiefern ein Wohngebiet, ein Stadtviertel oder eine Gemeinde von den dort lebenden Menschen als sozialräumliche Einheit verstanden wird“ (Bertelsmann Stiftung & Kuratorium Deutsche Altershilfe 2007, Richter/Wächter 2009).
Gesundheitsförderung nach dem Setting-Ansatz
Der Ansatz des gesundheitsfördernden Settings nach dem Verständnis der Weltgesundheitsorganisation stellt eine wirkungsvolle Möglichkeit zur Entwicklung passgenauer, wohnumfeldnaher Angebote unter Beteiligung der Zielgruppen dar. Diese Beteiligung muss vor Ort von den Entscheidungsträgern ernsthaft gewünscht werden, denn die Gesundheitsförderungspotenziale älterer Menschen können vor Ort nur dann nachhaltig gestärkt werden, wenn dabei verschiedene Sektoren der Kommunalpolitik, insbesondere die Senioren- und die Gesundheitspolitik mit den Akteuren aus vorhandenen Angebotsstrukturen und den Zielgruppen gemeinsam die vorhandenen Problemlagen analysieren und Lösungen entwickeln. Die Verzahnung von vorhandenen Versorgungsangeboten mit ehrenamtlichem Engagement setzt an den Lebenswelten der Zielgruppen an und führt zu alltagsnahen, sozial eingebetteten Maßnahmen.
Beispiele aus dem Bereich der Seniorenpolitik zeigen, dass häufig nicht das Gesundheitswesen selbst als Nukleus für die Implementierung partizipativ angelegter Gesundheitsförderungsstrategien fungiert, sondern dass sich andere Politikbereiche integrierte Lösungsansätze leichter zu eigen machen als die kaum beteiligungsorientierte Gesundheitsversorgung in Deutschland.
Für das Entwickeln effektiver, kleinräumiger Gesundheitsförderungsstrategien darf auch die Themenauswahl nicht von außen erfolgen und an die dann vermeintlich „schwer erreichbaren Zielgruppen“ herangetragen werden (Altgeld u. a. 2006). Nur wenn es gelingt, die Gesundheitspotenziale und -risiken vor Ort gemeinsam mit den Beteiligten selbst zu analysieren, können alltagsnahe Lösungen erbracht werden. So trägt der Auf- und Ausbau der gemeindenahen Gesundheitsförderung für ältere Menschen auch zur Weiterentwicklung des gesundheitsfördernden Settingansatzes bei. Für diese Empowermentstrategien fehlen vielerorts noch die finanziellen und strukturellen Anreizsysteme, die diese Prozesse ermöglichen und voranbringen.
Bedarfserhebung in der Kommune
Kaum eine Kommune fängt jedoch bei Null an. In der Regel existieren vielfältige Aktivitäten sehr unterschiedlicher Träger. Im Rahmen der kommunalen Gesundheitsförderung muss deshalb zunächst erhoben werden, welche Aktivitäten für die Zielgruppen bereits laufen und welche Rahmendaten vor Ort genutzt werden können. In einem zweiten Schritt müssen Handlungsbedarfe identifiziert werden. Wirkungsvolle Instrumente der Beteiligung zur Identifikation von Handlungsbedarf und Aktivierung von Bürgerinnen und Bürgern sind:
Befragung von Seniorinnen und Senioren: Dabei kann aus den Daten der Melderegister eine repräsentative Stichprobe ermittelt werden. Eine solche Zielgruppenbefragung sollte nur vorgenommen werden, wenn der erklärte politische Wille vorhanden ist, die Ergebnisse auch umzusetzen und ein hohes Maß an Transparenz gewährleistet ist. Als Versuchsballon eignen sich Zielgruppenbefragungen nicht, weil sie erstens breite Bevölkerungsgruppen einbeziehen und zweitens Hoffnungen auslösen können, die nicht leichtfertig enttäuscht werden sollten. In Niedersachsen hat die Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen e. V. (LVG&AFS) gemeinsam mit der Region Hannover einen Fragebogen für Seniorenbefragungen entwickelt, der jeweils auf besondere Fragestellungen vor Ort angepasst werden kann. Befragungen in Gronau und Springe wurden gemeinsam mit den Kommunen erarbeitet und durchgeführt. Die Ergebnisse gaben unter anderem Hinweise darauf, welche Aspekte der kommunalen Infrastruktur, insbesondere was Mobilität und Engagement anbelangt, verbessert werden können. Die Ergebnisse wurden mit den zuständigen Fachgremien und Trägern vor Ort diskutiert und Maßnahmen wurden entwickelt.
Expert/innenbefragungen: Einfacher zu realisieren sind häufig die Erhebungen von Expertenmeinungen. Dabei sollten nicht nur professionelle Expertinnen und Experten ins Blickfeld genommen werden, sondern auch organisierte Seniorinnen und Senioren. Bei der Experten- wie auch bei der Zielgruppenbefragung stellen sich grundsätzlich ähnliche Fragen wie die nach den einzubeziehenden Fachleuten, nach dem verwendeten Verfahren, der Auswertung und der Ergebnisverwertung.
Bildung von nachbarschaftlichen Netzwerken
Nachbarschaftsnetzwerke können auf bürgerschaftlichem Engagement beruhen oder auch - zwar seltener anzutreffen, aber dafür meist umso wirksamer - als Bewohnerinitiativen ohne Anstoß von außen entstehen. Sie basieren wie auch Netzwerke generell auf Gemeinsamkeiten. Das können gemeinsame Problemlagen sein. Allerdings entfalten in Wohngebieten mit hoher sozialer Problematik positive Anlässe („Freude“) und gemeinsame Aufgaben und Ziele oft mehr Motivation zur gemeinsamen Initiative als problematische Situationen (wie z. B. die Vermüllung des Umfelds). Weitere Anlässe für gemeinsames Handeln und die Entstehung von Nachbarschaftsnetzwerken liegen im Erkennen von individuellem Hilfebedarf, von Strukturschwächen und dem Wunsch hier eine Art Ausgleich zu schaffen. Die positiven Wirkungen, die von Nachbarschaftsnetzwerken auf Gesundheit und Wohlbefinden ausgehen, liegen in der Entwicklung von vertrauensvollen Beziehungen und sozialem Zusammenhalt im Nachbarschaftsumfeld. Nach Expertenmeinung profitieren davon neben sozial Benachteiligten mit geringem sozialem Kapital besonders ältere Menschen.
Diese Prozesse erfordern die Verfügung über Ressourcen. Zeit, Engagement von Schlüsselpersonen und auch finanzielle Mittel sind unverzichtbar. Erfolgsfaktoren sind darüber hinaus vor allem:
- Vermittelnde Personen und Situationen in Nachbarschaft und Quartier
- Eine unproblematische Verfügung über öffentliche Räume
- Die Vermeidung von Ausgrenzung, Homogenität und starren Strukturen
- Die Vermeidung von unvereinbaren Gegensätzen zwischen „community“ und Netzwerk
- Die Vermeidung von „Expertentum“, stattdessen vielmehr Herstellung von „Ebenbürtigkeit“ oder auch „gleicher Augenhöhe“ unter allen Beteiligten
- Eine unproblematische Verfügbarkeit über finanzielle Mittel, zumindest in geringem Umfang, um kleinere Projekte rasch zu verwirklichen
- Verbündete unter der Bewohnerschaft, kommunalen Institutionen, Initiativen und freien Trägern
- gut sichtbare Darstellung von Erfolgen nach außen, die das Nachbarschaftsnetzwerk interessant machen und weitere Mitglieder anziehen
- Kooperation statt Konkurrenz, denn Konkurrenz untereinander, aber auch mit anderen Ehrenamtlichen oder professionell etablierten Institutionen gehört zu den größten Risiken für die Arbeit in Nachbarschaftsnetzwerken
Diese Potenziale sind in den unterschiedlichsten kommunalen Settings vorhanden und lassen sich für gesundheitsförderliche Aktivitäten nutzen. Oft sind allerdings wegen des beschriebenen Ressourcenmangels in Nachbarschaften mit einem hohen Anteil an sozial Benachteiligten zunächst Impulse durch professionelle Akteure erforderlich, die den Prozess anstoßen, indem sie erste niedrigschwellige Aktivitäten initiieren, vermittelnde Situationen und Treffpunkte ermöglichen. Neben den bereits genannten Aspekten kommt es hier auf eine hohe Methodenkompetenz bei Professionellen vor allem im Bereich der Empowerment- und Partizipationsstrategien an. Ebenso wichtig sind die Ressourcenorientierung und die Ausrichtung auf Verselbstständigung und Selbstorganisation der Aktivitäten (Richter & Wächter 2009).