20.08.2012
Trotz Allergiefaktor: Vernetzung muss sein!
Christoph Gilles, LVR-Landesjugendamt Rheinland
Schlagwörter:Armut, Kommentar, Kommunen, Netzwerk, Projektmanagement, Präventionsketten, Qualitätsentwicklung
Die Armut von Kindern ist ein wichtiges Thema kommunaler Jugendhilfe und lässt viele Träger und Initiativen aktiv werden. Um diese Maßnahmen in einem partnerschaftlichen Planungsprozess zu bündeln und bedarfsorientiert zu gestalten, haben sich gesteuerte Netzwerke bewährt. Das LVR-Landesjugendamt Rheinland greift dies auf und unterstützt die Jugendämter durch das Programm "Teilhabe ermöglichen - Kommunale Netzwerke gegen Kinderarmut". Das von einer Koordination gesteuerte, kommunale Netzwerk steht im Zentrum der Aktivitäten und soll eine Präventionskette auf den Weg bringen.
Die Forderung, durch Netzwerke die Soziale Arbeit oder die Jugendhilfe besser zu organisieren, findet sich überall: In Erlassen, Arbeitshilfen, in wissenschaftlichen Texten und im Bundeskinderschutzgesetz - immer verbunden mit der Zielsetzung, der Fülle und Unüberschaubarkeit von Maßnahmen und Projekten, der blockierenden Konkurrenz und der Beliebigkeit durch zielgerichtete Steuerung entgegenzuwirken. Kein Wunder, dass der Begriff Netzwerk bei solch einem inflationären Gebrauch auch unterschiedliche Reaktionen auslöst. Prinzipielle Zustimmung ja, zugleich Überdruss und Ablehnung bis hin zum "Allergiefaktor". Und immer noch gibt es in der Literatur nur wenige Hinweise, wie Vernetzung in der Praxis umgesetzt werden kann.
Das LVR-Landesjugendamt Rheinland erprobt seit 2006 mit dem Modellprojekt "NEFF - Netzwerk frühe Förderung" und mit dem Programm "Kommunale Netzwerke gegen Kinderarmut" die Möglichkeiten und Wirkungen eines vom Jugendamt gesteuerten Netzwerks.
Steuerung beim Jugendamt
Netzwerke funktionieren, wenn alle Beteiligten ihren Nutzen erkennen können. Dazu müssen Maßnahmen gegen die Armut von Kindern gemeinsam geplant und umgesetzt werden. Jugendamt und freie Träger arbeiten hier gleichberechtigt zusammen.
In Netzwerken gibt es immer auch Konkurrenzen. Mit Transparenz und gegenseitigem Vertrauen wächst durch eine gemeinsame Ziel- und Maßnahmenplanung aus bisher vereinzelten Kooperationen ein gesteuertes, zielgerichtetes Netzwerk. So können die bestehenden Konkurrenzen Schritt für Schritt zugunsten des Nutzens aller Beteiligten vermindert werden. Die Koordination und die Steuerungsverantwortung für das Netzwerk ist Aufgabe des Jugendamts. Denn hier liegt nach dem SGB VIII die Gesamtverantwortung (§ 79) für die Maßnahmen der Jugendhilfe. Das Jugendamt ist dabei prinzipiell zur Partnerschaftlichkeit (§ 4) mit allen Beteiligten verpflichtet.
Strategiezyklus Netzwerkarbeit1
Die Anregung, der Aufbau und die Pflege eines Netzwerks gelingen immer nur Schritt für Schritt. Im Zentrum steht die Netzwerkkoordination, die im Jugendamt auf der Planungsund Steuerungsebene ihren Platz haben sollte. Sie ist der entscheidende Motor der Entwicklung, die vom unverbindlichen Nebeneinander zu verbindlichen Kommunikations- und Handlungsstrukturen führt.
- Problem, Auftrag, Aufgabe: Wie wird das Problem beschrieben? Welchen Auftrag erteilt die Vorgesetztenebene? Welche Aufgabenzuordnungen ergeben sich daraus in der Öffentlichkeit, in Politik und Verwaltung? Welche eigenen Vorstellungen existieren?
- Netzwerk analysieren: Wer sind die Akteure? Wer bewegt etwas? Wer blockiert? Welche Netzwerke bestehen schon? Welche organisatorischen Rahmenbedingungen und thematischen Zuordnungen gibt es im Jugendamt? Welche Befugnisse und Zuständigkeiten hat die Koordination? Welche Basisdaten stehen zur Verfügung?
- Steuerungsgruppe bilden2: Auswahl von Personen im Bezugsfeld, die sowohl die entsprechenden Entscheidungsbefugnisse mitbringen, als auch thematisch nah genug am Phänomen der Kinderarmut dran sind. Das ist die Grundlage, um mit der Jugendamtshierarchie zu klären: Welche Personen sollten dabei sein? Wer auf keinen Fall?
- Leitbild entwerfen: Voraussetzung ist die Entwicklung eines Selbstverständnisses zum Thema Kinderarmut in der Steuerungsgruppe. Bewährt hat sich die Festlegung einer fach- und jugendpolitischen Agenda, einer zentralen Botschaft zum Thema: Was wollen wir gemeinsam erreichen?
- Rat/Jugendhilfeausschuss beschließen: Handlungsbasis der Netzwerkakteure ist ein politischer Beschluss zum Leitbild und zu den verfügbaren Ressourcen.
- Auftaktveranstaltung durchführen: Die Planung und Durchführung übernimmt die Steuerungsgruppe. Eine Auftaktveranstaltung sensibilisiert die Öffentlichkeit, motiviert die Beteiligten und schafft Transparenz.
- Bedarf ermitteln: Bedürfnisse von Kindern und Familien ermitteln, sozialräumliche Fokussierung, Datenerfassung zu Lebenswelten und Lebenslagen, qualitative Erhebungen, Alltagsempirie durch die Einbindung von Wissen und Erfahrung der Fachkräfte. Die Lebenslage des Kindes steht dabei im Mittelpunkt.
- Ziel- und Maßnahmenkatalog erstellen: Auf der strukturellen Ebene geht es darum, das Netzwerk zu organisieren und Rahmenbedingungen für die Präventionskette zu schaffen. Operativ bezieht sich dies auf die Anregung von Maßnahmen und Projekten mit und für die Kinder und Familien. Zur Zielentwicklung gehört auch, Indikatoren, also Erfolgsanzeiger, festzulegen. Indikatoren für Teilhabe lassen sich zum Beispiel durch das Maß an Teilnahme von Angeboten bestimmen.
- Umsetzen: Die oft mühevolle und doch entscheidende pädagogische Praxis, »der schmuddelige Alltag« (Hans Thiersch) braucht die wertschätzende, wohlwollende, motivierende Begleitung und Unterstützung durch die Netzwerkkoordination und das Netzwerk selbst.
- Überprüfen: Die Ergebnisse der Netzwerkarbeit und die Entwicklung der Präventionskette werden überprüft. Wirkungen werden festgehalten und Erfolge deutlich gemacht. Aus der kontinuierlichen, kritischen Überprüfung der Arbeit müssen dann Konsequenzen für die weitere Arbeit innerhalb des Netzwerks entwickelt, festgehalten und in die Umsetzung gebracht werden - auch für die Arbeit der Koordination und der Steuerungsgruppe. Umsetzen und Überprüfen brauchen genügend Aufmerksamkeit und Zeit, um die quantitativen und qualitativen Erfolge und Defizite zu ermitteln.
Netzwerkarbeit ist sowohl Strategie als auch Alltagshandeln auf einer übergeordneten Ebene, die in ihren einzelnen Schritten zyklisch aufgebaut ist. Nach einem erfolgreichen Durchgang ist die eigentliche Arbeit jedoch nicht beendet. Aus der kritischen Überprüfung der Ziele und Maßnahmen werden Erkenntnisse gebündelt, die das zukünftige Handeln im Netzwerk bestimmen. Das Netzwerk ist als lernendes System zu verstehen.
Literatur
1 Dazu auch der »Strategiezyklus von kommunalen Netzwerken« in Bertelsmann Stiftung (Hrsg): Kommunale Netzwerke für Kinder. Gütersloh 2008, S. 85 ff. und Holz, Gerda: Kindbezogene Armutsprävention als struktureller Präventionsansatz. In: Holz, G./ Richter-Kornweitz, A. (Hrsg.): Kinderarmut und ihre Folgen. München 2010, S. 109-125.
2 Die Begrifflichkeiten, die innerhalb der Kommune verwendet werden, sind eindeutig zu klären und festzulegen. Ob Steuerungsgruppe, Netzwerk, Koordination - die Akteure in der Kommune müssen darunter immer das Gleiche verstehen.
Der Artikel ist zuerst im Jugendhilfe-Report des LVR-Landesjugendamtes Rheinland erschienen. Auf der Homepage können Sie die entsprechende Ausgabe herunterladen.