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05.06.2012

UNICEF-Vergleichsstudie 2012: Reiche Länder - arme Kinder

Pressemitteilung von UNICEF Deutschland

Helga Kuhn, UNICEF Deutschland

Schlagwörter:Armut, Soziallage, Studie

Rund 30 Millionen Kinder wach­sen in den 35 reichsten Staaten der Welt in relativer Ar­mut auf, fast 1,2 Millionen die­ser Mäd­chen und Jun­gen le­ben in Deutsch­land. Ungefähr eben­so viele Kinder in Deutsch­land ent­beh­ren not­wen­dige Dinge wie regelmäßige Mahl­zeiten oder Bücher. Dies sind Er­geb­nisse der neuen UNICEF-Studie „Kinderarmut mes­sen - Neue Rang­lis­ten der Kinderarmut in den rei­chen Ländern der Welt“. Neben der re­la­tiven Einkom­mens­armut dokumentiert UNICEF da­rin mit Hilfe ei­nes so ge­nann­ten Deprivationsindex erst­mals auch um­fas­send absolute Man­gel­si­tua­tio­nen von Kin­dern. Dem­nach erhält in Deutsch­land zum Bei­spiel ei­nes von 20 Kin­dern keine täg­li­che warme Mahl­zeit. Ins­ge­samt schnei­det Deutsch­land bei die­sem Vergleich - ähn­lich wie in früheren Stu­di­en - nur mit­tel­mä­ßig ab.

„Es ist enttäuschend, dass Deutsch­land es nicht schafft, die materiellen Le­bens­be­din­gung­en für Kin­der ent­schei­dend zu verbessern“, sagte Chris­ti­an Schnei­der, Ge­schäfts­füh­rer von UNICEF Deutsch­land. „In Zeiten der Haushaltskonsolidierung tut es be­son­ders Not, ge­zielt die am meisten be­nach­tei­lig­ten Kinder zu un­ter­stüt­zen. Bund, Länder und Kom­mu­nen müs­sen sich ge­mein­sam klare Ziele mit Zeit­an­ga­ben set­zen, um Ar­mut und Aus­gren­zung Schritt für Schritt abzubauen. In rei­chen In­dus­trie­ländern sollte kein Kind notwendige Dinge ent­beh­ren müs­sen.“

Der Index der Entbehrungen

Der Deprivationsindex erfasst ins­ge­samt 14 verschiedene Güter oder An­ge­bo­te wie ein Platz für Hausaufgaben, Internetanschluss oder Freizeitaktivitäten zum Bei­spiel in ei­nem Sportverein und soll so die Lebenswirklichkeit armer Kinder in rei­chen Ländern kon­kre­ter ab­bil­den. Ba­sis ist ei­ne repräsentative Er­he­bung der Euro­päi­schen Uni­on, für die 125.000 Haushalte erst­mals nach Da­ten zu Kin­dern befragt wurden. Rund 13 Millionen Kinder in 29 In­dus­trie­ländern ent­beh­ren mehr als zwei die­ser grundlegenden Dinge. Dies wird als Hinweis auf ei­ne besondere Mangelsituation be­wer­tet. In Deutsch­land liegt die­ser An­teil bei 8,8 Pro­zent. Beim Län­der­vergleich be­legt Deutsch­land Platz 15 von 29 Ländern und schneidet deut­lich schlechter ab als Dä­ne­mark (2,6 Pro­zent) oder Schwe­den (1,3 Pro­zent), ob­wohl die Länder hinsichtlich des Pro-Kopf-Einkommens und der wirtschaftlichen Ent­wick­lung auf ei­nem ähnlichen Ni­veau lie­gen. Im Vergleich zu Schwe­den (das nach Is­land auf Platz 2 die­ser Rang­lis­te liegt) ist die Deprivationsrate hierzulande so­gar fast sie­ben Mal höher. Besser als in Deutsch­land geht es auch Kin­dern in Groß­bri­tan­ni­en, ob­wohl dort die Pro-Kopf-Einkommen im Schnitt niedriger lie­gen als bei uns. Die höchsten Deprivationsraten fin­den sich in den ärmeren Staaten Europas wie Ru­mä­ni­en, Bul­ga­ri­en und Un­garn.

Am häufigsten mangelt es Kin­dern hierzulande an regelmäßigen Freizeitaktivitäten (6,7 Pro­zent). Nahe­zu eins von 20 Kin­dern muss auf ei­ne tägliche warme Mahl­zeit verzichten (4,9 Pro­zent). 4,4 Pro­zent der Mäd­chen und Jun­gen haben kei­nen Platz, an dem sie ih­re Hausaufgaben ma­chen kön­nen. 3,7 Pro­zent der Kinder be­sit­zen höchstens ein einziges Paar Schuhe. 3,1 Pro­zent der un­ter 16-Jährigen er­hal­ten nie neue Kleider und drei Pro­zent le­ben in ei­nem Haushalt oh­ne Internetanschluss. Besonders häufig ent­beh­ren Kinder in Deutsch­land wichtige Dinge, wenn die Eltern ar­beits­los sind (42,2 %) oder wenn sie ei­nen niedrigen Bildungsabschluss haben (35,6 %).

Zu geringe Verbesserungen bei Einkommensarmut

Das UNICEF-Forschungsinstitut in Flo­renz hat für die vorliegende Un­ter­su­chung die neuesten erhältlichen Da­ten ausgewertet - die meisten da­von stam­men al­ler­dings aus dem Jahr 2009. Für den Vergleich der Einkommensarmut von Fa­mi­lien mit Kin­dern lagen Da­ten aus den EU-Staaten und sechs weiteren OECD-Ländern vor. Die meisten skandinavischen Länder, die Nie­der­lan­de, Zy­pern und Slowenien schnei­den mit Armutsraten un­ter sie­ben Pro­zent am besten ab, Schluss­licht sind Ru­mä­ni­en und die USA. Deutsch­land liegt bei diesem Vergleich im oberen Mit­tel­feld - auf Platz 13 von 35 Ländern. Seit der Vergleichsun­tersuchung von 2005 hat sich Deutsch­land zwar leicht verbes­sert. Anders als in den meisten Staaten sank hier der An­teil von Kin­dern, die in ein­kom­mens­schwa­chen Haushalten auf­wach­sen, von 10,2 Pro­zent (2005) auf 8,5 Pro­zent (2009). In allen skandinavischen Ländern, den Nie­der­lan­den, Ös­ter­reich, Tschechien, der Schweiz und in Ir­land sind Kinder je­doch nach wie vor - oft mit deutlichem Ab­stand - seltener arm. Ebenfalls bes­ser da ste­hen Is­land (auch hier auf Platz 1), Zy­pern und Slowenien.

Ohne Kin­der­geld, Steu­er­er­leich­te­rung­en und So­zi­al­leis­tun­gen hätte die Ar­mutsrate in Deutsch­land un­ter Fa­mi­lien mit Kin­dern 2009 bei 17 Pro­zent ge­le­gen - dop­pelt so viel wie die gemessenen 8,5 Pro­zent. Deutsch­land gehört so zu den - ins­ge­samt nur zehn von 35 - un­tersuchten Staaten, in de­nen Kinderarmut seltener vorkommt als Ar­mut un­ter Er­wach­se­nen. Doch an­de­re Länder tun deut­lich mehr, um die materielle Si­tu­a­ti­on von Kin­dern zu verbessern. Vergleicht man die Ra­te der Kinderarmut vor und nach staatlichen Maß­nah­men, so verringern Ir­land, Un­garn und Groß­bri­tan­ni­en den An­teil von Kin­dern in Ar­mut am deut­lichsten.

UNICEF-Schlussfolgerungen

Kinderarmut ist ein wichtiger Fak­tor für kindliches Wohl­be­fin­den, das in seiner Ge­samt­heit erst­mals 2007 von UNICEF dokumentiert wurde. Dieser umfassende An­satz soll in Folgeuntersuchungen wie­der aufgegriffen wer­den. Aus der jetzt vorgelegten speziellen Stu­die zur materiellen Si­tu­a­ti­on von Kin­dern er­ge­ben sich aus Sicht von UNICEF folgende Konsequenzen:

  • Vorrang für Kinder auch in Zeiten der Fi­nanz­kri­se: Es gibt einen klaren Zu­sam­men­hang zwi­schen Auf­wen­dung­en für Kinder und positiven Wir­kung­en einer solchen Politik. Die Haus­halts­kon­so­li­die­rungen im Zuge der Fi­nanz­kri­se dür­fen nicht da­zu füh­ren, dass die In­te­res­sen von Kin­dern hinten angestellt wer­den.
  • Nationale Agen­da ge­gen Kinderarmut: In Deutsch­land fehlt ein umfassender Aktionsplan, um Kinderarmut zu senken. Die Bun­des­re­gie­rung sollte ge­mein­sam mit den Ländern genaue Ziele mit Zeit­an­ga­ben fest­le­gen, um Ar­mut und Aus­gren­zung Schritt für Schritt abzubauen. Dabei muss die gezielte Un­ter­stüt­zung für be­son­ders benachteiligte Kinder obers­te Priorität er­hal­ten.
  • Politik für Kinder braucht genauere und aktuellere Da­ten und Fakten: Wirt­schafts­wachs­tum, In­fla­ti­on oder Beschäftigungsraten wer­den in allen untersuchten Ländern vierteljährlich registriert. In Zu­kunft müs­sen diese Staaten sicherstellen, dass auch Da­ten zur La­ge der Kinder und ins­be­son­de­re zu Kinderarmut re­gel­mä­ßig und in kurzen Abständen - min­des­tens einmal pro Jahr - erhoben wer­den: Da­ten zu relativer Einkommensarmut wie auch Da­ten zu direkten Entbehrungen, zur Dau­er von Not­la­gen und zur Tie­fe der Ar­mut. Dabei sollten vor allem in großen Ländern wie Deutsch­land auch regionale Unterschiede berücksichtigt wer­den.

Neben der dargestellten Stu­die zur Kinderarmut hat UNICEF ei­nen Be­richt zur La­ge der Kinder in Deutsch­land 2011/2012 mit ei­nen besonderen Fo­kus auf das kindliche Wohl­be­fin­den und die gesellschaftliche Teil­ha­be veröffentlicht. Darin wurden ak­tu­ell verfügbare Da­ten zum Wohl­be­fin­den von Kin­dern für die einzelnen Bundesländer ausgewertet, wo­bei „Ge­sund­heit und Si­cher­heit“ als ei­ne von sechs Dimensionen zur Grunde gelegt wurde. Den vollständigen Be­richt fin­den Sie hier.

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