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17.04.2019

Vom Weckruf und der Suche nach dem Wie

Positionen zum Konzept Gesundheitskompetenz

Kai Kolpatzik, AOK - Bundesverband
Rolf Rosenbrock, Paritätischer Wohlfahrtsverband - Gesamtverband e.V.

Schlagwörter:Gesundheitskompetenz, Gesundheitspolitik, Präventionsgesetz

„Das Konzept hat nützliche Aspekte.“

Prof. Dr. Rolf Rosenbrock

Gesundheitsförderung als Voraussetzung für Gesundheitskompetenz

Nimmt man den Be­griff Ge­sund­heitskompetenz beim Wort, dann geht es um we­sent­lich mehr und anderes als um das Finden, Verstehen und Verarbeiten von Ge­sund­heitsinformationen. Dann wä­re mit Ge­sund­heitskompetenz ei­ne Bewältigungsstrategie - man kann auch sa­gen ei­ne Lebenskunst - ge­meint, die es den Menschen auch un­ter widrigen Umständen er­mög­licht, die Ba­lan­ce zwi­schen Ge­sund­heitsressourcen und -belastungen ste­tig wiederherzustellen und mit den alltäglichen Zu­mu­tung­en und Mög­lich­keit­en gut umzugehen. Genau diese Kompetenzen wer­den aber v. a. durch partizipativ angelegte Ge­sund­heits­för­de­rung in Lebenswelten entwickelt und vermehrt. Insoweit schafft solche Ge­sund­heits­för­de­rung u. a. auch die Voraussetzungen zur Nut­zung von Ge­sund­heitskompetenz im Sinne der Fä­hig­keit, für die eigene Ge­sund­heit relevante Informationen zu fin­den, zu verstehen, zu be­ur­tei­len und umzusetzen.

Nicht (nur) Defizite Einzelner

Zunächst erinnert das Kon­zept fa­tal an den herkömmlichen, ins­be­son­de­re bei so­zi­al be­nach­tei­lig­ten Menschen, stets erfolgsarmen Präventionsansatz „knowledge - attitude - practice“, der meint, dass Wissen die Ein­stel­lung ändert und ei­ne so veränderte Ein­stel­lung zu gesundheitsgerechtem Verhalten führt.
Schaut man sich je­doch den health literacy-Ansatz in sei­ner Ent­ste­hung genauer an, so wird auch der Nutzen des Kon­zeptes deutlicher. Nicht-Regierungs-Or­ga­ni­sa­ti­onen in den USA bemühten sich, Migrantinnen und Migranten Sprachkenntnisse und oh­ne jede Er­fah­rung im Ankunftsland den Weg zur Krankenversorgung oder The­ra­pie zu er­mög­li­chen. Sie unterstützten da­mit die Ent­wick­lung von Gesundheitssystemkompetenz. Da ist in Deutsch­land noch viel zu tun, zum Bei­spiel durch För­de­rung der Selbst­hil­fe. Nützlich in der deutschen Dis­kus­si­on ist v. a., dass der Fo­kus nicht nur auf Defiziten der Einzelnen liegt. Ebenso wer­den Institutionen zu Veränderung in Or­ga­ni­sa­ti­on und Kom­mu­ni­ka­ti­on aufgerufen, so dass ih­re angemessene und kritische Nut­zung auch für Menschen mit anderem Sprach-, Kultur- und Bildungshintergrund er­mög­licht wird - mit dem Ziel interkultureller Öff­nung.

Motivation als Schlüsselbegriff

Neben dem et­was zu groß geratenen Na­men besteht ei­ne weitere Schwach­stel­le da­rin, dass health literacy als Zielzustand definiert. In Umfragen wird ge­mes­sen, wel­che Defizite vorhanden sind. Wie aber diese Defizite behoben wer­den kön­nen, wird im Kon­zept kaum ausgeführt. Die am Aktionsplan beteiligten Wis­sen­schaft­le­rin­nen und Wis­sen­schaft­ler produzieren da­zu der­zeit Strategiepapiere, auf die man ge­spannt sein darf. Bleibt es bei dem, im Kern auf die Ko­gni­ti­on verkürzten, Verständnis, wird Gesundheitskompetenz für die Pra­xis der Ge­sund­heits­för­de­rung und der kompetenten Nut­zung der Krankenversorgung bald ir­re­le­vant wer­den, ei­ne weitere akademische Übung für die gebildeten Schich­ten. Wird aber das akkumulierte Wissen aus der partizipativen Ge­sund­heits­för­de­rung genutzt, wird schnell deut­lich, dass Prozesse des Findens, Verstehens, Bewertens und Umsetzens von Gesundheitsinformationen so­zi­al sehr voraussetzungsvoll sind und mit ko­gni­tiv ansetzenden Stra­te­gien al­lein kaum Veränderungen des Lebensstils zu be­wir­ken sind.

Ein Schlüsselbegriff in diesem Zu­sam­men­hang ist die Mo­ti­va­ti­on. In der bisherigen De­fi­ni­ti­on von Ge­sund­heitskompetenz ist Mo­ti­va­ti­on ein­ge­schlos­sen, die zugrundeliegenden Messinstrumente er­fas­sen sie aber gar nicht. Kein Wun­der: Mo­ti­va­ti­on ist ja nur in geringem Auf­maß Er­geb­nis des Umgangs mit Ge­sund­heitsinformationen und hängt ne­ben dem Leidensdruck des Einzelnen auch von den je­weils vorhandenen Res­sour­cen ab, die so­zi­al höchst un­gleich verteilt sind und auf deren Ent­wick­lung und Stär­kung Ge­sund­heits­för­de­rung abzielt.
Das Kon­zept und die Messinstrumente der Ge­sund­heitskompetenz sollten dem­nach an­ge­passt wer­den, um dem heutigen Wis­sens­stand zum komplexen Verständnis von Ge­sund­heit ge­recht zu wer­den. Dann könnte health literacy auch ei­nen Bei­trag zur Um­set­zung des Präventionsgesetzes 2015 leis­ten.

Kurzum: Voraussetzung des kognitiven Teils beim Er­werb von Ge­sund­heitskompetenz ist - be­son­ders mit Blick auf so­zi­al bedingte Un­gleich­heit von Ge­sund­heitschancen - ei­ne erfolgreiche Ge­sund­heits­för­de­rung in den da­für geeigneten Lebenswelten.



„Im Fokus stehen die Menschen und die Rahmenbedingungen.“

Dr. Kai Kolpatzik

Eine Kombination aus Verhaltens- und Verhältnisprävention

Als deutsche Über­set­zung des englischen Be­griffs health literacy hat sich der Be­griff Ge­sund­heitskompetenz durchgesetzt. Ge­sund­heitskompetenz, so die De­fi­ni­ti­on, basiert auf Literalität und umfasst das Wissen, die Mo­ti­va­ti­on und die Fä­hig­keit­en von Menschen, relevante Ge­sund­heitsinformationen in unterschiedlicher Form zu fin­den, zu verste­hen, zu be­ur­tei­len und anzuwenden, um im All­tag in den Bereichen der Ge­sund­heits­för­de­rung, Krankheitsprävention und Krankenversorgung Urteile fällen und Ent­schei­dung­en tref­fen zu kön­nen, die zur Er­hal­tung oder Verbesserung der Le­bens­qua­li­tät und Ge­sund­heit wäh­rend des gesamten Lebensverlaufs bei­tra­gen.

Im Fo­kus ste­hen glei­cher­ma­ßen der Mensch und die entsprechenden Rah­men­be­din­gung­en. Übertragen auf die Ge­sund­heits­för­de­rung und Primärprävention heißt dies, dass auch Maß­nah­men zur Stei­ge­rung der Ge­sund­heitskompetenz der Be­völ­ke­rung so­wohl den Prinzipien der Verhaltens- wie auch der Verhältnisprävention fol­gen müs­sen. Und auch hier gilt: Eine Kom­bi­na­ti­on aus beiden ist am erfolgversprechendsten.

Ein gravierendes gesamtgesellschaftliches Problem

Die Ergebnisse der Stu­di­en sind ein echter Weck­ruf für die Akteure im Gesund­heits­wesen und für die Politik. So be­stä­ti­gen al­le bisherigen Untersuchungen in Deutsch­land, dass je­der zwei­te Er­wach­se­ne in Deutsch­land Probleme mit dem Su­chen und Finden, dem Verstehen, dem Bewerten und dem Anwenden von Ge­sund­heitsinformationen hat. Das gilt über al­le Schich­ten und al­le Al­ters­grup­pen hinweg. Wir haben es hier mit ei­nem gravierenden gesamtgesellschaftlichen Problem zu tun. Schät­zung­en der Welt­ge­sund­heits­or­ga­ni­sa­ti­ ge­hen zu­dem von vermeidbaren Mehr­aus­ga­ben durch ei­ne unzureichende Ge­sund­heitskompetenz in Höhe von drei bis fünf Pro­zent der Ge­sund­heitsausgaben aus. Allein für das deutsche Ge­sund­heitssystem bedeutet das zwi­schen elf und 18 Mil­li­ar­den Eu­ro pro Jahr. Wir sollten al­so eher vom Impact sprechen, den die Maß­nah­men zur Stei­ge­rung der Ge­sund­heitskompetenz haben.

Zum Kon­zept der Ge­sund­heitskompetenz selbst möchte ich ger­ne zwei Vorteile hervorheben. Ge­sund­heitskompetenz ist mess­bar und an die Ent­wick­lung­en im Be­reich der gesundheitlichen Grundbildung anknüpfbar.
Durch die Messbarkeit wer­den ganz an­de­re Argumentationsketten er­mög­licht - vor al­lem Entscheiderinnen und Entscheidern so­wie der Politik ge­gen­über. So ist es sehr positiv zu be­wer­ten, dass das Bun­des­mi­nis­te­ri­um für Ge­sund­heit die Folgeuntersuchung zur Ge­sund­heitskompetenz in Deutsch­land unterstützt. Unter der Fe­der­füh­rung der Welt­ge­sund­heits­or­ga­ni­sa­ti­ - was die Be­deu­tung noch einmal unterstreicht - wer­den dies­mal so­gar deut­lich mehr Staaten in Eu­ro­pa da­ran teil­neh­men.

Ähnlich erschreckende Ergebnisse wie zur Ge­sund­heitskompetenz hat 2011 die LEO-Studie zum Aus­maß des funktionalen Analphabetismus in Deutsch­land gezeigt. 14,5 Pro­zent der erwachsenen Be­völ­ke­rung oder 7,5 Millionen Menschen in Deutsch­land le­sen so schlecht, dass sie im All­tag ge­le­gent­lich oder grund­sätz­lich auf Un­ter­stüt­zung an­ge­wie­sen sind.

Das hat auch klare Aus­wir­kung­en auf den Ge­sund­heitsbereich. Angefangen beim Le­sen von Beipackzetteln, der Do­sie­rung von Medikamenten über Hygienevorschriften am Ar­beits­platz bis hin zum Ausfüllen von Anamnesebögen kann dies gravierende Aus­wir­kung­en auf die eigene Ge­sund­heit und Patientensicherheit haben. Der An­satz der hier er­for­der­lichen Verbesserung der gesundheitlichen Grundbildung setzt da­bei ge­nau am An­satz der funktionalen Ge­sund­heitskompetenz an.

Eine Zu­sam­men­füh­rung der beiden Be­reiche ist des­halb drin­gend er­for­der­lich.

Leitplanken und die Nähe zur Definition

Beim The­ma Gesundheitskompetenz besteht Handlungsbedarf.
Jeder zwei­te Bür­ger in Deutsch­land hat Probleme im Um­gang mit Gesundheitsinformationen.
Als AOK haben wir gleich nach der ge­mein­samen von AOK-Bundesverband und dem Wissenschaftlichen In­sti­tut der Orts­kran­ken­kas­sen 2014 veröffentlichten ersten bun­des­weit repräsentativen Un­ter­su­chung zur Gesundheitskompetenz von ge­setz­lich Krankenversicherten in Deutsch­land da­mit begonnen, neue Informationsansätze zu er­ar­bei­ten. Herausgekommen ist mit den AOK-Faktenboxen ein evidenzbasiertes laienverständliches Medium, das u.a. mit der Visualisierung von Risiken arbeitet.

Damit aber nicht un­ko­or­di­niert lau­ter Einzelmaßnahmen ent­ste­hen und das Kon­zept verwässert wird, war es wich­tig, ent­spre­chende Leit­plan­ken und ei­nen Rahmen zu set­zen. Als Mit­he­raus­ge­ber des Nationalen Aktionsplans Gesundheitskompetenz, der ge­mein­sam mit namenhaften Ex­per­ten erarbeitet wurde, haben wir ge­nau diese Rah­men­be­din­gung­en und Leit­plan­ken 2018 geschaffen.

Konkret heißt dies für die Bereiche der in der Prä­ven­ti­on und Ge­sund­heits­för­de­rung maßgeblichen Lebenswelten, für das Gesundheitssystem, für ein Leben mit chronischer Er­kran­kung so­wie für die For­schung.
Um die Voraussetzungen für das Gelingen guter Pra­xis zu schaffen, wurden gleich­zei­tig fünf grundlegende Prinzipien erarbeitet, die bei der Um­set­zung von Maß­nah­men berücksichtigt wer­den sollten.

Neben der Er­mög­li­chung der Teil­ha­be geht es bei­spiels­wei­se um die Verringerung der sozialen und gesundheitlichen Un­gleich­heit oder die Nut­zung der Chan­cen der Digitalisierung.
Für ei­ne erfolgreiche Stei­ge­rung der Gesundheitskompetenz der Be­völ­ke­rung wird es aus mei­ner Sicht wich­tig sein, eng an der De­fi­ni­ti­on zu blei­ben und die Um­set­zungsprinzipien ent­spre­chend zu be­rück­sich­ti­gen.



Die Positionen von Prof. Dr. Rolf Rosenbrock und Dr. Kai Kolpatzik wurden au­ßer­dem in ei­ner gekürzten Version in unserem aktuellen Themenblatt Gesundheitskompetenz veröffentlicht. Zum Themenblatt ge­lan­gen Sie hier.

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