13.04.2018
Vorrang für Verhältnisprävention
Freia De Bock, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Raimund Geene, Berlin School of Public Health
Wolfgang Hoffmann, Universität Greifswald
Svenja Matusall, Geschäftsstelle Zukunftsforum Public Health
Andreas Stang, Leiter des Zentrums für Klinische Epidemiologie (ZKE)
Schlagwörter:Handreichung, Health in All Policies, Verhältnisprävention
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Chancen für mehr Verhältnisprävention
Die Wahl des Themas „Wege zu Health in all Policies“ bei der Podiumsdiskussion des Zukunftsforums Public Health 2017 soll zeigen: Eine großflächige Verbesserung der Gesundheit aller in Deutschland ist vor allem durch eine Änderung der Lebensverhältnisse zu erwarten. Diese setzt voraus, dass im politischen Handeln gemäß des Helsinki - Statements Gesundheit und gesundheitlicher Chancengleichheit Priorität eingeräumt wird (Weltgesundheitskonferenz 2013).
Neben der Orientierung an „Health in all policies“ möchten wir jedoch weitere Chancen für die Veränderung von Lebensverhältnissen hin zu mehr Gesundheit in Deutschland aufzeigen. Diese sehen wir vor allem im Paradigmenwechsel in der durch die gesetzlichen Krankenkassen finanzierten Prävention, den der Gesetzgeber mit dem Präventionsgesetz (2015) vollzogen hat: Während Präventionsmaßnahmen bislang vor allem in Form verhaltensbezogener Individualprävention erbracht wurden, soll zukünftig der überwiegende Anteil der nun deutlich erhöhten Finanzmittel (mindestens 4 der 7 Euro pro Versicherten und Jahr) für verhältnispräventive Ansätze als Gesundheitsförderung in Lebenswelten (§§ 20a, 20b SGB V) verwendet werden. Diese gesetzliche Grundlage bahnt den Weg für Präventionsmaßnahmen, die eine nachhaltige und effektive Veränderung sozialer, baulicher und kultureller Verhältnisse in verschiedenen Settings bewirken.
Hierdurch ergeben sich einerseits Chancen für eine Stärkung der Verhältnisprävention. Andererseits sind hiermit auch Herausforderungen verbunden, insbesondere bezüglich eines gemeinsamen Verständnisses, einer effektiven Konzeptualisierung und einer erfolgreichen Implementierung von Verhältnisprävention im Zusammenspiel mit einer nicht individualistisch verkürzten Verhaltensprävention. Diesbezüglich gilt es zu diskutieren, inwiefern der aktuell gesetzlich festgehaltene Gestaltungsauftrag an die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) im PrävG eine effektive Implementierung von Verhältnisprävention optimal unterstützt.
Wie Verhaltens- und Verhältnisprävention unterscheiden
In der internationalen Literatur sind die Begrifflichkeiten Verhaltnis- und Verhaltensprävention nicht gebräuchlich und daher schlecht übersetzbar. In der deutschen Literatur dagegen wird der jeweilige Fokus von Verhaltens- von Verhältnisprävention sowie ihr Zusammenspiel eingehend diskutiert. Obwohl das PrävG auf diese Begriffe zurückgreift ist deren Verständnis in der Praxis, so auf kommunaler Ebene, bei Politik und Krankenkassen sowie mitunter auch in fachlichen Begleitdiskursen, oft unscharf. Dies mag daran liegen, dass Projekte der Verhältnisprävention in der Umsetzung auch Verhaltensaspekte implizieren. So zielt die Veränderung von Verhältnissen indirekt auf Verhaltensänderung ab und die Veränderung von Verhältnissen setzt häufig wiederum Veränderungen des Verhaltens voraus. Beispielsweise soll die bauliche Umgestaltung von Kommunen hin zu mehr Spielplätzen und Grünflächen zu einer erhöhten Nutzung dieser neuen Umwelten und damit letztendlich u.a. zu einem gesünderen Bewegungsverhalten führen. Der Anstoß dazu kann von den Bürgern selbst kommen - unter partizipativen Gesichtspunkten also eine Wechselwirkung von Verhaltens - und Verhältnisprävention.
Der Unterschied zwischen Verhaltens- und Verhältnisprävention macht sich primär daran fest, wo die präventive Maßnahme ansetzt: am Wissen und Verhalten des Einzelnen (Verhaltensprävention) oder an Bedingungen des Lebensumfeldes, also beispielsweise den Lebens- und Arbeitsverhältnissen oder von Umweltfaktoren (Verhältnisprävention).
Warum Verhältnisprävention Vorrang hat
Viele Maßnahmen der Verhaltensprävention beschränken sich darauf, dass eine individuelle Verhaltensänderung durch Wissen, veränderte Einstellungen oder Motivationsentwicklung bewirkt werden soll. Es ist jedoch wissenschaftlich vielfach belegt, dass das individuelle Gesundheitsverhalten durch Wissensvermittlung nur in geringem Maß und dann vor allem bei schon veränderungsbereiten Bevölkerungsschichten verändert werden kann. Dagegen können sozial stark belastete Menschen Verhaltensbotschaften wegen fehlender Ressourcen oft kaum umsetzen und in der Folge sogar weiter diskriminiert werden („Präventionsdilemma“). Weiter ist Verhältnisprävention für besonders vulnerable Bevölkerungsgruppen, die ihr Verhalten primär nicht selbst gestalten können (z.B. Kinder, Behinderte), Teil der gesellschaftlichen Fürsorgepflicht.
Daher muss Prävention, wenn sie flächendeckend effektiv implementiert werden und zur Verminderung ungleicher Gesundheitschancen beitragen soll, in erheblichem Maße auch auf Verhältnisänderung setzen. Letztere umfasst die Veränderung der ökologischen, sozialen, kulturellen und technisch-materiellen Lebensbedingungen im institutionellen und sozialen Kontext. Verhältnisprävention möchte also Gesundheitsbelastungen, die aus dem Lebensumfeld resultieren, verringern und Gesundheitsressourcen, die das Lebensumfeld bieten kann, vermehren. In diesen Kontext müssen sich auch Ansätze von Health Literacy („Gesundheitskompetenz“) und Verhaltensprävention einfügen.
Die Unterscheidung von Verhaltens- und Verhältnisprävention ist dabei mehr als nur eine Frage der Terminologie: Wenn Praxis, Politik und Sozialversicherungen Präventionsmaßnahmen in Settings umsetzen wollen, müssen verhältnispräventive Maßnahmen Vorrang haben. Es erfordert - ganz im Sinne des neu formulierten § 20a SGB V - eine Bestandsaufnahme und Analyse, wo Ansätze für die Veränderung von Verhältnissen liegen und wie diesbezüglich notwendige gesundheitsförderliche Strukturen und Netzwerke aufgebaut werden können.
Was die gesetzlich festgelegten Zuständigkeiten für Verhältnisprävention bedeuten
Angesichts dieser Anforderungen an die Umsetzung von Verhältnisprävention ist festzuhalten, dass der Gestaltungsauftrag von Gesundheitsförderung und Prävention im SGB V derzeit primär bei der GKV liegt. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) ist gemäß Präventionsgesetz vom GKV - Spitzenverband beauftragt, die Qualität und die Nachhaltigkeit der vom GKV - Spitzenverband initiierten Maßnahmen/Strategien zu sichern. Diese Aufgabe setzt in der praktischen Umsetzung prinzipiell eine partnerschaftliche Kooperation von GKV, anderen Sozialversicherungsträgern und BZgA voraus und stellt aktuell eine große Herausforderung für alle Seiten dar. Zudem gibt es bezüglich dieser Regelung des Gestaltungsauftrags mehrere immanente Schwierigkeiten:
1) Die Krankenkassen haben bislang vorrangig individuell angelegte Angebote der Verhaltensprävention bereitgestellt, die für sie ein wichtiges Instrument der Versichertenakquise und--?bindung und insbesondere des Marketings darstellen. Lebensweltbezogene Ansätze zur Verringerung sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen stehen dazu in einem Spannungsverhältnis, insbesondere, wenn es sozial belastete Bevölkerungsgruppen wie Wohnungslose, Arbeitslose oder Alleinerziehende betrifft. So lässt sich auch erklären, dass viele der von Krankenkassen im Rahmen ihrer Eigenleistungen gemäß §20 Abs1 S.1 initiierten Maßnahmen weiterhin vor allem verhaltenspräventiv ausgerichtet sind.
2) Die Krankenkassen sind aufgrund ihrer Berichtspflicht gegenüber ihren Versicherten und den damit verbundenen Aufsichtsgremien gehalten, die Relevanz der Maßnahmen für ihre Versicherten darzulegen. Dies widerspricht prinzipiell dem Charakter von verhältnispräventiven Maßnahmen: Diese haben aus ihrer Anlage heraus einen übergreifenden, gesamtgesellschaftlichen Blick und sollen unabhängig vom individuellen Versichertenstatus allen Angehörigen der jeweiligen Lebenswelten zu Gute kommen.
3) Die Sozialversicherungen müssen bei der Entwicklung und Implementierung einer Nationalen Präventionsstrategie zusammenarbeiten, wobei die Leistungen in Lebenswelten von der GKV kassenübergreifend erbracht werden sollen. Dies folgt der Logik der „Krankenversicherung als Solidargemeinschaft“ nach § 1 SGB V, steht aber im Gegensatz zur gleichzeitig politisch implementierten wettbewerblichen Ausrichtungen der einzelnen Kassen.
4) Es fehlt ein klares, durch finanzielle Beteiligung hinterlegtes Bekenntnis der politischen Bundes- und Länderebene zur Prävention. Eine solche breitere Aufstellung der Finanzierung der Leistungen nach PrävG ist Voraussetzung für eine langfristig effektive und sektorenübergreifende Verankerung von Verhältnisprävention gemäß „Health in all policies“.
Während wir die Verabschiedung des Präventionsgesetzes nachdrücklich begrüßen, halten wir daher die aktuelle gesetzliche Zuständigkeitsregelung und die praktische Umsetzung für unzureichend und entwicklungsbedürftig. Wir fordern, für die Weiterentwicklung der Prävention eine Enquete-Kommission „Prävention in Deutschland“ des Deutschen Bundestags einzurichten.
Was wir für mehr Effektivität von Verhältnisprävention tun können
Ein weiterer Punkt ist für eine effektive, bundesweite Implementierung von Maßnahmen der Verhältnisprävention hinderlich: Im Gegensatz zu dem unterschiedlich auslegbaren Begriff der Qualität der initiierten Maßnahmen wird die wissenschaftliche Evidenz im Präventionsgesetz selbst nicht thematisiert. Dies ist aus unserer Sicht ein entscheidendes Versäumnis: Aus der medizinischen Versorgung ist der große Wert eines evidenzbasierten Vorgehens für das Wohl der Patienten bekannt. Die Public Health Community in Deutschland sollte daher verstärkt zum Thema Evidenzbasierung (v.a. auch in der Verhältnisprävention) forschen und hier den Anschluss an die internationale Forschungslage herstellen. Dazu gehört auch Forschung zum Transfer von Evidenz in die Praxis („Implementierungsforschung“). Das Zukunftsforum Public Health vereint Vertreter aller Bereiche von Public Health und ist eine gemeinsame Plattform aller nationalen wissenschaftlichen Gesellschaften mit Bezug zu Public Health. Wir sind bereit, eine starke, konsentierte wissenschaftliche Stimme und damit einhergehende breite Expertise bei der Umsetzung des Präventionsgesetzes und der Gestaltung einer nationalen Public Health Strategie einzubringen.
Zusätzlich zu einer noch auszubauenden beratenden Rolle für verschiedene Akteure im Rahmen des Präventionsgesetzes bieten wir an, für Fragestellungen im Bereich Public Health ein systematisiertes Vorgehen für mehr Evidenz und erfolgreiche Implementierung aktiv mit zu entwickeln bzw. bestehende Zuständige dabei maßgeblich zu unterstützen.
Die Zukunft von Public Health? Wir möchten mit Ihnen diskutieren
Wir laden Sie herzlich ein, die Themen rund um das Zukunftsforum Public Health auf der Austauschplattform inforo mit uns zu diskutieren.
Zukunftsforum Public Health, Berlin, 12.12.2017