15.08.2012
Was sind Frühe Hilfen?
Mechthild Paul, Nationales Zentrum Frühe Hilfen
Schlagwörter:Eltern, Familie, Frühe Hilfen, Jugendhilfe, Kinderschutz, Netzwerk, Prävention
Seit einigen Jahren findet ein intensiver fachpolitischer Diskurs um die Frühen Hilfen statt. Dieser Diskurs hat dazu geführt, dass die Frühen Hilfen eine Verankerung im neuen Bundeskinderschutzgesetz fanden. Aber was ist das „Neue“ an den Frühen Hilfen, welche Hoffnungen werden mit den Frühen Hilfen verbunden?
Frühe Hilfen: Begriffsbestimmung
Frühe Hilfen bilden lokale und regionale Unterstützungssysteme mit koordinierten Hilfeangeboten für Eltern und Kinder ab Beginn der Schwangerschaft und in den ersten Lebensjahren mit einem Schwerpunkt auf der Altersgruppe der Null- bis Dreijährigen. Sie zielen darauf ab, Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern und Eltern in Familie und Gesellschaft frühzeitig und nachhaltig zu verbessern. Neben alltagspraktischer Unterstützung wollen Frühe Hilfen insbesondere einen Beitrag zur Förderung der Beziehungs- und Erziehungskompetenz von (werdenden) Müttern und Vätern leisten. Damit tragen sie maßgeblich zum gesunden Aufwachsen von Kindern bei und sichern deren Rechte auf Schutz, Förderung und Teilhabe.
Frühe Hilfen umfassen vielfältige sowohl allgemeine als auch spezifische, aufeinander bezogene und einander ergänzende Angebote und Maßnahmen. Grundlegend sind Angebote, die sich an alle (werdenden) Eltern mit ihren Kindern im Sinne der Gesundheitsförderung richten (universelle/primäre Prävention). Darüber hinaus wenden sich Frühe Hilfen insbesondere an Familien in Problemlagen (selektive/sekundäre Prävention). Frühe Hilfen tragen in der Arbeit mit den Familien dazu bei, dass Risiken für das Wohl und die Entwicklung des Kindes frühzeitig wahrgenommen und reduziert werden. Wenn die Hilfen nicht ausreichen, eine Gefährdung des Kindeswohls abzuwenden, sorgen Frühe Hilfen dafür, dass weitere Maßnahmen zum Schutz des Kindes ergriffen werden.
Frühe Hilfen basieren vor allem auf multiprofessioneller Kooperation, beziehen aber auch bürgerschaftliches Engagement und die Stärkung sozialer Netzwerke von Familien mit ein. Zentral für die praktische Umsetzung Früher Hilfen ist deshalb eine enge Vernetzung und Kooperation von Institutionen und Angeboten aus den Bereichen der Schwangerschaftsberatung, des Gesundheitswesens, der interdisziplinären Frühförderung, der Kinder- und Jugendhilfe und weiterer sozialer Dienste. Frühe Hilfen haben dabei sowohl das Ziel, die flächendeckende Versorgung von Familien mit bedarfsgerechten Unterstützungsangeboten voranzutreiben, als auch die Qualität der Versorgung zu verbessern.
Gravierende Fälle von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung waren der Anlass zu einer breiten gesellschaftlichen Debatte, ob die Ressourcen, Konzepte und Verfahren im Kinderschutz ausreichend sind, um Kinder vor Gefährdungen zu schützen. Gleichzeitig konnte in den Kommunen ein erheblicher Anstieg der Kosten in der Kinder- und Jugendhilfe festgestellt werden, wodurch ein Hinterfragen des Bisherigen ebenfalls notwendig wurde.
Aber nicht nur in der Kinder- und Jugendhilfe, sondern auch im Gesundheitssystem konnten Entwicklungen hinsichtlich der gesundheitlichen Lage von Kindern und Jugendlichen festgestellt werden, die ein Umdenken notwendig machen. Das Krankheitsspektrum bei Kindern hat sich in den letzten Jahrzehnten entscheidend verändert. Die so genannte neue Morbidität zeigt sich in einer Verschiebung von den akuten zu den chronischen Erkrankungen und von den somatischen zu den psychischen Störungen (Schlack 2004). Die meisten Kinder sind heute körperlich gesund, aber vor dem Hintergrund der Veränderung von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, vor allem aufgrund von schwierigen sozialen Lebensumständen, haben Entwicklungs- und Verhaltensstörungen sowie psychische Auffälligkeiten zugenommen (Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen 2009, S. 46).
Diese Entwicklungen hatten zur Folge, zum einen den Blick stärker auf die frühzeitige Förderung und Prävention zu lenken und zum anderen bisherige Systemlogiken zu hinterfragen. Dies führte zu folgenden Implikationen bei den Frühen Hilfen:
Frühe Hilfen als frühzeitiges Angebot
Frühe Hilfen sollen so früh wie möglich Eltern dabei unterstützen, ihren Kindern von Anfang an, das heißt schon ab der Schwangerschaft und in der frühen Kindheit, eine gesunde Entwicklung zu ermöglichen und somit Risiken für Gefährdungen soweit wie möglich zu reduzieren. Im Zentrum steht die Unterstützung von Eltern, die aufgrund großer Belastungen aus eigener Kraft nicht ausreichend für ihre Kinder sorgen können. Die Belastungen sind vielschichtig und reichen von eigenen psychischen Beeinträchtigungen und häuslicher Gewalt bis hin zu Problemen aufgrund von mangelnder Bildung und Armut. Frühzeitige Unterstützung setzt dabei voraus, dass diese Belastungen und Bedarfe frühzeitig erkannt und passgenaue Hilfen angeboten werden.
Frühe Hilfen als systemübergreifendes Angebot
Frühe Hilfen sind in erster Linie kein bestimmter Hilfetyp, sondern basieren auf einem System von aufeinander bezogenen Unterstützungsangeboten im Rahmen eines Netzwerkes Frühe Hilfen. Dieses Netzwerk umfasst sowohl allgemeine als auch spezifische Hilfen für besondere Problemlagen. Über die allgemeinen Hilfen kann ein guter Zugang zu besonders schwer erreichbaren Eltern hergestellt werden. Dies sind vor allem Angebote des Gesundheitssystems, aber auch z. B. der Schwangerschaftsberatung. Diese Angebote werden von allen (werdenden) Eltern genutzt und daher als nicht stigmatisierend erlebt. Die Anbieter genießen ein hohes Vertrauen der Familien. Die spezifischen Hilfen umfassen psychosoziale Hilfen für besondere Problemlagen, um den Unterstützungsbedarfen der Familien in prekären Lebenslagen gerecht zu werden. Diese werden vor allem von der Jugendhilfe vorgehalten. Durch systemübergreifende Zusammenarbeit und passgenaue Hilfen kann zum einen wirkungsvoller für die Familien und zum anderen ressourcenschonender für die Haushalte gearbeitet werden, in dem es zu weniger Fehlversorgung kommt und Parallelstrukturen vermieden werden.
Frühe Hilfen als freiwilliges und partizipatives Angebot
Frühe Hilfen als förderndes, präventives, an den Ressourcen der Eltern orientiertes Unterstützungsangebot lehnen sich an den Prinzipien der Gesundheitsförderung an. Die Kompetenzen der Eltern sollen soweit gefördert werden, dass sie aus eigenen Kräften für ihre Kinder sorgen können. Die Mobilisierung der Selbsthilfepotenziale und die Wirksamkeit der Hilfen setzen die freiwillige Annahme der Unterstützungsangebote und die partizipative Beteiligung der Familien am Hilfeprozess voraus. Dies erfordert eine professionelle wertschätzende Haltung den Familien gegenüber, so dass sie trotz schwierigster Lebensverhältnisse grundsätzlich Fähigkeiten ausbilden können, die eine Bewältigung der Probleme möglich machen.
Dies sind nur einige zentrale Facetten zu den Frühen Hilfen. Eine begriffliche Standortbestimmung wurde von den Beiräten des NZFH vorgenommen. Da es sich bei den Frühen Hilfen um einen jungen Ansatz der Gestaltung von Unterstützung und Hilfen handelt, werden weitere Studien, Praxiserprobungen und fachliche Diskurse notwendig sein, um Qualitätsentwicklungen im Bereich der Frühen Hilfen voranzubringen.
Dennoch werden Frühe Hilfen es nicht allein schaffen, dass die Familie ein guter Ort für alle Kinder in unserer Gesellschaft ist. Frühe Hilfen müssen eingebettet sein in ein gesamtgesellschaftliches Engagement, damit die soziale Lage von Familien nicht über ein gesundes Aufwachsen der Kinder entscheidet. Die Schnittstelle zur Verhältnisprävention ist eine weitere Herausforderung im Rahmen der Frühen Hilfen.
Literatur
- Nationales Zentrum Frühe Hilfen (2009): Begriffsbestimmung „Frühe Hilfen“ 2009. Aufrufbar unter www.fruehehilfen.de/wissen/fruehe-hilfen-grundlagen/begriffsbestimmung/.
- Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (2009): Koordination und Integration - Gesundheitsversorgung in einer Gesellschaft des längeren Lebens, Sondergutachten, Kurzfassung.
- Schlack, H. (2004): Neue Morbidität im Kindesalter - Aufgaben für die Sozialpädiatrie. In: Kinderärztliche Praxis, 5:292-298.
Dieser Artikel ist in der Sonderausgabe 2012 der Zeitschrift Frühe Kindheit enthalten. Die Ausgabe können Sie hier online lesen oder kostenlos bestellen.