08.02.2019
Was überkommunale Daseinsfürsorge konkret bedeutet
Vernetztes Denken und Handeln des Landesverbandes Westfalen-Lippe
Meinolf Noeker, Landschaftsverband Westfalen-Lippe
Schlagwörter:Gesundheitsversorgung, Kommunen, Partner, Teilhabe
Im Rahmen des 16. Jahrestreffens des Kooperationsverbundes Gesundheitliche Chancengleichheit am 30. November 2018 konnte der Beitritt des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) zum Verbund offiziell besiegelt werden. Prof. Dr. Meinolf Noeker, Krankenhausdezernent des LWL, stellte im Interview die bedeutende Rolle der Kommune zur Herstellung gesundheitlicher Chancengleichheit heraus.
Frage des Moderators:
Fühlen Sie sich nach den Ausführungen auf diesem „Kooperationstreffen“ in Ihrem Beschluss, dem Kooperationsverbund Gesundheitliche Chancengleichheit beizutreten, bestärkt?
Prof. Dr. Meinolf Noeker:
Ja, außerordentlich! Wir haben, glaube ich, eine hohe Identität zwischen dem Grundanliegen des Kooperationsverbundes und den Anliegen, die wir seit Jahrzehnten im Landschaftsverband Westfalen-Lippe als unsere kommunale Identität und Philosophie vertreten. Wir übernehmen in den Landschaftsverbänden als überkommunale Organisation Aufgaben, von denen die Kommunen in weiser Voraussicht vor Jahrzehnten festgelegt haben, dass sie sehr viel besser durch interkommunale Vernetzung zu organisieren sind. Wir bearbeiten und verantworten zum Beispiel Aufgabenbereiche des Sozialen, vor allem der Teilhabe und der Eingliederung, der überörtlichen Jugendhilfe sowie der psychiatrischen stationären wie ambulanten Krankenhausversorgung in gemeinsamer, überkommunaler Verantwortung. Die Zielsetzung eines vernetzten Denkens und Handelns und die Grundphilosophie einer Ausrichtung an gesundheitlicher Chancengleichheit teilen wir mit dem Kooperationsverbund.
Im Sozialbereich sind wir vom Landesgesetzgeber NRW in seinem Ausführungsgesetz zum Bundesteilhabegesetz (BTHG) als der zuständige Träger definiert worden, um den Auftrag des Gesetzes umzusetzen, ambulante und stationäre Wohnformen zusammenzuführen und auch einheitlich zu finanzieren. Bei uns im LWL ist die Geschäftsstelle der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Sozialhilfeträger der Bundesrepublik (BAGüS) ansässig.
Im Bereich der Jugendhilfe sind wir aktiv als überörtlicher Jugendhilfeträger. Ich darf Ihnen hierzu auch meine Kollegin Frau Dr. Bruchmann vorstellen. Dort stützen wir die Arbeit der örtlichen Jugendhilfeträger im Bereich Weiterbildung durch eine Vielzahl von Fortbildungsmaßnahmen. Wir wirken in angemessener Weise kontrollierend, um fachliche Standards im Interesse der betroffenen Kinder und Jugendlichen zu sichern. Wir koordinieren und stimulieren mit vielen innovativen Projekten zum Beispiel die Weiterentwicklung der Suchthilfe besonders im präventiven und sekundärpräventiven Bereich.
Im Bereich der psychiatrischen Krankenhausversorgung, die ich vertrete, haben wir elf erwachsenenpsychiatrische sowie vier kinder- und jugendpsychiatrische Kliniken. Psychiatrische Therapie, soziale und gesellschaftliche Teilhabe, frühe Prävention in der Jugendhilfe dürfen wir nicht isoliert denken. Wir erkennen dies an einzelnen, schwierig verlaufenden Biographien, die über die Systemgrenzen hinausweisen. Sie starten vielleicht mit Sozialpädagogischer Familienhilfe in Verantwortung der Jugendhilfe, erhalten in Krisenphasen eine Therapie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, können sich privat und beruflich nicht wirklich stabilisieren und benötigen auch im Erwachsenalter psychiatrische oder suchttherapeutische Behandlung an einer Klinik. Bei einem weiterhin schweren Verlauf ist die Integration in den ersten Arbeitsmarkt gefährdet, die Wohnsituation ist kritisch, Beratung, Anleitung und Unterstützung bleiben erforderlich. Es entwicklet sich seelische Behinderung mit Teilhabebedarf zum Beispiel in Form des Ambulant betreuten Wohnens nach BTHG. Und in fortgeschrittenem Alter kann - wie bei psychiatrisch gesunden Menschen auch - eine somatische Pflegebedürftigkeit hinzutreten. Für Personen mit einer solchen Biographie mit psychiatrischer Morbidität und / oder seelischer Behinderung haben wir im LWL spezialisierte Pflegeheime, in denen das Personal somatisch wie psychiatrisch qualifiziert ist. Solche, im Einzelfall sicher langwierigen und extremen Verläufe zeigen dennoch etwas Grundsätzliches auf: Wir haben in der Bundesrepublik zwar zwölf Sozialgesetzbücher, bekommen aber gesundheitliche Chancengleichheit und Patientennutzen nur realisiert, wenn wir die Leistungen der einzelnen Sozialleistungsträger integriert denken!
Im LWL werden diese Leistungen übergreifend angeboten, das erleichtert Kooperation über einen verengten Blick der eigenen Zuständigkeitsdefinitionen und Abgrenzungszäune hinaus.
In einem weiteren Punkt spiegelt sich die Grundphilosophie des „Kooperationsverbundes Gesundheitliche Chancengleichheit“ mit unserer Philosophie kommunalen Denkens. Wir richten uns an dem tradierten und treffsicheren Begriff der Daseinsfürsorge aus. Als Träger psychiatrischer Krankenhäuser sind wir nicht unterwegs, um Profit für Anteilseigner zu machen. Natürlich müssen auch wir wirtschaftlich klug strukturieren, denken und arbeiten - nicht zuletzt aus Verantwortung für den Steuerzahler und den Beitragszahler. Aber das Geld, das wir erwirtschaften, geht automatisch wieder zurück: in eine Weiterentwicklung der psychiatrischen Versorgung. Wir sind finanziell ein mehr oder weniger geschlossenes System. Wenn wir sparsam sind, gewinnen wir Spielräume und Ressourcen für patientengerechte Investitionen. Gesundheitliche Chancengleichheit bedeutet für uns, dass wir sehr darauf achten, dass wir Patientinnen und Patienten nicht danach selektieren, wie ist die wirtschaftliche Ertragskraft und Revenue bei dem einen oder bei dem anderen Patienten. Wir picken keine Rosinen heraus. Wir fragen nicht, wie niedrig ist vielleicht der klinische Aufwand, den wir für einen bestimmten Patienten betreiben, mit der Konsequenz, dass wir ihn bevorzugt aufnehmen. Oder umgekehrt: Bei einem Patienten mit komplexen Risikofaktoren, dass wir diesen möglichst schnell weiter verweisen. Ohne Ansehen der Person schauen wir primär nach Dringlichkeit, Bedarf und Bedürfnissen. So definiert sich ein Klientel, um das wir uns in wohlverstandener Daseinsfürsorge besonders gut und vorrangig kümmern müssen.
Wir wissen, dass wir letztlich alle nur gemeinsam nach vorne kommen. Der Diskussionsverlauf hier hat mir noch mal gezeigt, dass wir eine sehr hohe Übereinkunft in den grundlegenden Zielen und Philosophien haben. Deswegen freut es mich außerordentlich, dass ich heute hier den LWL als neues Mitglied vertreten darf.
Applaus
Moderator:
Herzlichen Dank. Ich fand es beeindruckend, wie Sie dargestellt haben, welche Verantwortung Kommunen tragen, gesundheitliche Chancengleichheit herzustellen!