04.06.2019
Wie ist die Situation wohnungsloser Menschen in Deutschland?
Ein Interview mit Prof. Dr. Susanne Gerull zur ersten systematischen Lebenslagenuntersuchung
Susanne Gerull, Alice Salomon Hochschule
Schlagwörter:Studie, Wohnungslose
Zum ersten Mal wurde ein Lebenslagenindex entwickelt, welcher wissenschaftlich signifikante Aussagen zur Lebenslage wohnungsloser Menschen in Deutschland ermöglicht. Der Evangelische Bundesfachverband Existenzsicherung und Teilhabe e.V. (EBET) - Fachverband für Wohnungsnotfall- und Straffälligenhilfe und die Alice Salomon Hochschule Berlin befragten wohnungslose Menschen anhand von objektivierbaren Kriterien nach sechs Lebenslagenbereichen. Außerdem wurden sie um eine subjektive Einschätzung ihrer Lebenssituation gebeten.
Was sind die Kernergebnisse Ihrer durchgeführten Untersuchung zur Lebenslage wohnungsloser Menschen?
Mit der Studie haben wir die Lebenssituation wohnungsloser Menschen untersucht. Hierzu haben wir in sechs Lebenslagenbereichen
- materielle Situation
- Erwerbsstatus
- Gesundheit
- Wohnsituation
- soziale Netzwerke
- Sicherheit
sowohl objektivierbare Daten als auch subjektive Einschätzungen von insgesamt 1.135 Betroffenen erfragt.
Zu den Kernergebnissen gehört,
- dass wir dabei mehrere besonders vulnerable Gruppen unter wohnungslosen Menschen ausmachen konnten: Überproportional von unterdurchschnittlichen (schlechten/sehr schlechten) Lebenslagen betroffen sind wie erwartet Menschen, die auf der Straße oder in ähnlich prekären Wohn- und Übernachtungssituationen leben.
- Ebenfalls nicht überraschend ist, dass fast zwei Fünftel sonstiger EU-Bürgerinnen und -bürger (vor allem aus Südosteuropa) besonders belastet sind.
- Bemerkenswert ist dagegen die Lebenssituation differenziert nach der Dauer der Wohnungslosigkeit: die am stärksten belastete Gruppe unter den Befragten sind Menschen mit mittlerer Dauer der Wohnungslosigkeit und nicht langzeitwohnungslose Menschen (ein Jahr und länger).
Anhand der erhobenen subjektiven Einschätzungen über ihre Lebenssituation können wir nach der Studie von Anpassungsleistungen langzeitwohnungsloser Menschen ausgehen, die in der Sozialen Arbeit als Ressource nutzbar sind.
Insgesamt befanden sich 28 Prozent der Befragten in einer unterdurchschnittlichen Lebenslage. Dabei schätzten sich viele Menschen subjektiv als belasteter ein, als es die objektivierbaren Daten hergeben. Bei isolierter Berechnung der subjektiven Einschätzungen lag die Selbsteinschätzung der unterdurchschnittlichen Lebenslage bei 40,9 Prozent.
Haupteinflussfaktor auf die Lebenslage insgesamt ist nach unseren Berechnungen die existenzielle und ontologische Sicherheit der befragten wohnungslosen Menschen, die sich aus der Wohn- bzw. Unterkunftssituation, der Wohnzufriedenheit, dem Sicherheitsgefühl sowie dem Zugang zu medizinischer Versorgung zusammensetzt.
Für den Lebenslagenbereich Gesundheit stellte sich heraus, dass mehr als drei Viertel aller Befragten (77,1 Prozent) Zugang zu medizinischer Regelversorgung haben. 37,6 Prozent schätzten ihre Gesundheit sehr gut bzw. gut ein (zweit positivste Einschätzungen von fünf Stufen insgesamt), ein knappes Drittel (30,6 Prozent) schlecht oder sehr schlecht (zweit negativste Einschätzungen).
Wie konnten Sie wohnungslose Menschen für die Teilnahme an den Erhebungen erreichen? Und wie haben Sie die subjektive Bereitschaft zur Teilnahme wahrgenommen?
Für die Studie haben bundesweit 70, nach repräsentativen Kriterien ausgesuchte, Einrichtungen der diakonischen Wohnungslosen- und Straffälligenhilfe ihre Nutzerinnen und Nutzer um das Ausfüllen des Fragebogens gebeten. Dieser stand neben einer deutschen Fassung in weiteren neun Übersetzungen zur Verfügung.
Die Teilnahme war freiwillig, aber die Professionellen haben viele wohnungslose Menschen motivieren können, sich mit den Fragen auseinanderzusetzen. Ein Grund war sicherlich, dass wir die Betroffenen für jeden Lebenslagenbereich auch um ihre subjektive Einschätzung gebeten haben. Hiermit ist eine Anerkennung verbunden: Ich selbst (nicht eine dritte Person) entscheide, wie es mir geht.
Im Rahmen der Erhebung entwickelten Sie einen Lebenslagenindex. Wie wurden die Indikatoren festgelegt und wer wurde bei der Entwicklung einbezogen?
Der Fragebogen wurde vollständig in einem partizipativen Verfahren entwickelt:
- Die Auswahl der Lebenslagenbereiche,
- die Festlegung der Indikatoren und
- das Ranking der Antworten für die Indexbildung
wurde in zwei ganztägigen Workshops diskutiert und entschieden. Eingeladen waren rund 15 Professionelle und (z. T. ehemals) Betroffene.
Die Einbeziehung der Adressatinnen und Adressaten hat sich als äußerst produktiv erwiesen, so wurde bspw. von den Betroffenen erfolgreich durchgesetzt, als einen der Lebenslagenbereichen ‚Sicherheit‘ statt ‚Bildung‘ auszuwählen, da ersterer wesentlich relevanter für ihre aktuelle Lebenssituation sei.
Auch setzten sie sich sehr dafür ein, neben den objektivierbaren Fragen wie zur Wohn- bzw. Unterkunftssituation und zum Erwerbsstatus die jeweilige Zufriedenheit zu erfragen. Auch damit sind wir, neben der Indexbildung zu einem Gesamtergebnis, neue Wege gegangen.
Vor welchen konkreten Herausforderungen steht die Wohnungslosenhilfe hinsichtlich der gesundheitlichen Chancengleichheit? Welche Empfehlungen würden Sie Entscheidungsträgerinnen und -trägern und Praktikerinnen und Praktikern der Gesundheitsförderung und sozialen Arbeit, basierend auf den Ergebnissen der Erhebung, aussprechen?
- Als Hauptforderung kann anhand der Ergebnisse der Studie das Recht auf Wohnen und die Umsetzung dieses Rechts erhoben werden. Hierzu muss in der Wohnungsnotfallhilfe das politische Mandat der Sozialen Arbeit stärker als bisher wahrgenommen werden.
- Darüber hinaus müssen die Betroffenen selbst vermehrt in alle Entscheidungsprozesse einbezogen werden, die sich auf ihre Lebenssituation auswirken.
- Im Lebenslagenbereich Gesundheit lassen sich aus den Ergebnissen der Studie vielfache Handlungsaufforderungen ableiten wie die Sicherstellung einer Gesundheitsversorgung für wohnungslose Unionsbürgerinnen und -bürger, bereits langfristig wohnungslose Menschen und weibliche Betroffene.
Die gesamte Studie finden Sie hier.
Susanne Gerull ist Professorin für Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit mit den Schwerpunkten Armut, Arbeitslosigkeit, Wohnungslosigkeit und niedrigschwellige Sozialarbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin. Wir danken Frau Prof. Dr. Susanne Gerull für die Beantwortung unserer Fragen.