03.11.2011
Wie viel Innovation braucht Nachhaltigkeit?
Schlaglichter aus der Online-Diskussion
Holger Kilian, MPH, Gesundheit Berlin-Brandenburg
Schlagwörter:Diskussion, Nachhaltigkeit, Strukturaufbau
Welchen Stellenwert besitzt Nachhaltigkeit für die Praxis der soziallagenbezogenen Gesundheitsförderung? Welche Erfahrungen machen die Akteure mit dem Aufbau nachhaltiger Angebote? Und wie lässt sich nachhaltige Praxis gleichzeitig mit dem Anspruch verbinden, innovativ zu arbeiten? Mit diesen Fragen startete die erste Online-Diskussion zum Thema „Wie viel Innovation braucht Nachhaltigkeit?“ am 21.09.2011. Anlass war der Jahreskongress von DGSMP und DGMS mit dem Leitthema „Prävention sozial und nachhaltig gestalten“. Die Diskussion ist seit Mittwoch, dem 19. Oktober 2011 abgeschlossen. Die 18 eingegangenen Beiträge bilden ein breites Spektrum von Perspektiven und Meinungen ab.
Ausgangspunkt der Diskussion: Zwei Standpunkte
Die Diskussion startete mit zwei gegensätzlichen Standpunkten.
Klaus D. Plümer, Mitglied im beratenden Arbeitskreis des Kooperationsverbundes, formuliert in seinem Statement, ohne kontinuierlichen Wandel könne es keine Nachhaltigkeit geben:
„Nachhaltigkeit ist das zentrale zukunftssichernde Thema auf der politischen Agenda - man denke nur an die Ökologiedebatte oder die Herausforderung, eine zukunftsfähige, lebenswerte Gesellschaft (Zivil- oder Bürgergesellschaft) für alle zu erreichen, die kulturelle Vielfalt und individuelle Eigenheiten im gesellschaftlich geteilten Lebensraum respektiert und gewährleistet. Das alles geht nicht, ohne permanent zu verändern und zu erneuern.“ (zum vollständigen Statement)
Margret Roddis und Sabine Tengeler aus dem Good Practice-Projekt „Gesund Kurs halten in Lurup“ stellen die Bedeutung von Kontinuität und Verlässlichkeit für ihre Praxis heraus: „Nachhaltige Gesundheitsförderung im Stadtteil braucht […] ein auf Respekt und Vertrauen gegründetes, stabiles Miteinander von Multiplikator/innen aus unterschiedlichsten Lebens- und Arbeitsbereichen; eine innovative und verlässliche Finanzierung für Koordination und für gesundheitsfördernde Projekte, Maßnahmen und Angebote; und einen Verfügungsfonds aus gemischten Förderquellen für die niedrigschwellige Entwicklung und Erprobung neuer Projekte und Herangehensweisen.“ (zum vollständigen Statement)
Auch wenn beide Statements unterschiedliche Schwerpunkte setzten, so machen sie schon deutlich, dass Nachhaltigkeit und Innovation keine unvereinbaren Gegensätze darstellen, sondern in einer guten Praxis auf einander bezogen sind. Doch was verstehen die Diskutantinnen und Diskutanten unter diesen beiden Begriffen?
Doppelte Nachhaltigkeit: Strukturen und Ergebnisse
In der Diskussion werden zwei Aspekte des Begriffes „Nachhaltigkeit“ deutlich: Zunächst ist es gerade für Praktikerinnen und Praktiker wichtig, nachhaltige Strukturen als Grundlage für eine kontinuierliche Arbeit aufbauen zu können: „Wichtig war und ist für uns eine gesicherte Finanzierung. Nur mit dieser Basis können wir zukunftsgerichtete Erfolge erzielen“, schreibt Volker Syring vom Flensburger Projekt „Schutzengel“. Ganz in diesem Sinne kritisiert Frank Lehmann eine „Projektitis“, die Modellprojekt an Modellprojekt reiht, ohne sich um die Verstetigung bewährter Praxis zu bemühen. Diese Erfahrung hat auch Wolfgang Auerbach in seiner Arbeit gemacht: „Es ist schon beachtlich, wie viele Modellprojekte in den nunmehr 20 Jahren Suchtarbeit allein bei uns entwickelt wurden, mit dem Fazit, dass die meisten eingefroren wurden.“
Doch oft ist es gar nicht notwendig, neue Strukturen aufzubauen. Barbara Weissbach betont, Gesundheitsförderung könne oft in bereits bestehende Strukturen integriert werden, denn „nicht für jedes neue Thema muss es gesonderte Projekte geben! Effektiver und effizienter ist es oft, Innovationen in bestehende Strukturen einzubinden, so z.B. das Thema Gesundheit in die Kindergärten und Schulen, in die Alltagsarbeit der Jobcenter, in Betriebe und Vereine.“ Dies bestätigt auch Martina Schmiedhofer wenn sie schreibt, benötigt würden in erster Linie „eine Verstetigung vorhandener Angebote und eine Implementierung in die Strukturen der kommunalen Politik, z.B. durch Aufhebung der Ressortgrenzen.“ Wichtig für tragfähige Strukturen in ihrer Arbeit seien außerdem „die gewachsenen, verlässlichen Kooperationen mit den Schulen“, ergänzt die AIDS-Koordinatorin Karola Born in ihrem Diskussionsbeitrag.
Doch der Blick dürfe nicht auf die Schaffung nachhaltiger, im Sinne von dauerhaften Strukturen verengt werden, warnt Klaus D. Plümer. Er kritisiert, im Sozial- und Gesundheitsbereich sei die Auffassung „erst braucht es Strukturen“ zu weit verbreitet und formuliert als Gegenposition: „Structures follow action.“ Deshalb sei es viel wichtiger, die „Wirksamkeit des Tuns“ auch zu belegen. (zum vollständigen Statement) Auch Frederick Groeger-Roth versteht es als eine zentrale Herausforderung, nachhaltige Ergebnisse und Wirkungen der gesundheitsfördernden Arbeit nachzuweisen: „Aber ohne ‚harte’ Nachweise wird es m.E. sehr schwer werden, Alternativen zu den von vielen TeilnehmerInnen ja zutreffend beschriebenen Grenzen der kurzatmigen Projektfinanzierung zu finden.“ In diesem Sinne formuliert Frank Lehmann als zentrales Nachhaltigkeitsziel der Gesundheitsförderung: „Die Nachhaltigkeit sollte sich letztlich an einer dauerhaften und zunehmenden Verschmälerung des sozialen Schichtgradienten für die Gesundheit zeigen.“ (zum vollständigen Statement)
Wie nachhaltige Strukturen nachhaltige Ergebnisse fördern können, skizziert Petra Maischak am Beispiel des sozialpädagogischen Dienstes der Stadt Neubrandenburg. Sie schreibt, in zehn Jahren Arbeit sei eine funktionierende Zusammenarbeit mit zahlreichen Partnern als Voraussetzung für nachhaltige Ergebnisse aufgebaut worden: „Eine ausgezeichnete interdisziplinäre Zusammenarbeit, konstruktiv ohne große Hürden, ein intaktes funktionierendes Netzwerk haben so manche Kindeswohlgefährdung frühzeitig aufgefangen.“
Innovation: Wann macht sie Sinn?
„Wesentlicher Bestandteil innovativer Gesundheitsförderung ist die Nachhaltigkeit (zumindest sollte es so sein)“, schlägt Monique Farin-Wewel in ihrem Beitrag die Brücke zum Thema Innovation. In den Angebotsstrukturen müssten bereits die notwendigen „Rückkopplungsschleifen“ vorgesehen sein, um die Anpassung der Strukturen an geänderte Bedingungen möglich zu machen. Für die Studentinnen Julia und Lena ist Innovation „das Aufgreifen aktueller Themen, das Anpassen an sich verändernde Zielgruppen und der Einfluss des neusten Wissenstands“ und muss in die (bewährten) Strukturen integriert werden.
Die Notwendigkeit zur Weiterentwicklung von Strukturen durch innovative Impulse sieht auch Gesine Bär: „Die Innovation liegt dabei vor allem auf der Ebene der Strukturen und ist uns allen als Forderung nicht neu: interdisziplinäre Vernetzung, gesundheitspolitische Mitverantwortung der anderen Ressorts, tragfähige und durchaus heterogene Vernetzungsstrukturen auf Stadtteilebene, Verfügungsfonds in Stadtteilverantwortung, u.s.w.“ Besonders schwer hätten es Angebote, die gleich mit einem innovativen Ansatz an den Start gehen, kritisiert Karl Sasserath: „Innovative Gesundheitsprojekte für sozialbenachteiligte Bevölkerungsgruppen, wie z.B. für Arbeitslose und Arme stehen weder im Fokus von Krankenkassen noch der Gesundheitspolitik.“ Gerade den besonders betroffenen Kommunen fehlten oft die Mittel, solche wichtigen Angebote zu finanzieren.
Innovation und Nachhaltigkeit: Zwei Seiten einer Medaille
Selbstverständlich können die Beiträge zur Online-Diskussion die komplexe Ausgangsfrage „Wie viel Innovation braucht Nachhaltigkeit?“ nicht erschöpfend beantworten. Die Diskussion hat aber Schlaglichter auf einige wichtige Aspekte dieser für die gesundheitsfördernde Praxis zentralen Begriffe geworfen. Deutlich wurde, dass weder nachhaltige Strukturen noch Innovation Selbstzweck sein können, sondern immer nur vor dem Hintergrund nachhaltiger Wirkungen gerechtfertigt sind. Gesine Bär fasst zusammen, dass ein „gesicherter Rahmen, an dem viele vor Ort aber auch auf Landesebene (…) gemeinsam gezimmert haben, gute Voraussetzungen bietet, lokal gute und immer bedarfsgerechtere Qualität zu liefern.“ Auf diesen Strukturen können dann angepasste Innovationen aufsetzen: „Innovationen entlang von ‚Good-Practice-Kriterien’ und partizipativer Qualitätsentwicklung, SMARTen Zielen und diskursiven Verfahren!? Damit lässt sich doch gut die Diskussion darüber anfangen, was vor Ort und für wen als innovativ gelten kann.“
Der Kooperationsverbund „Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten“ bedankt sich bei allen Diskutantinnen und Diskutanten für ihre Beiträge!
Das Thema „Nachhaltigkeit in Prävention und Gesundheitsförderung“ bleibt weiterhin aktuell und wird von verschiedenen Fachveranstaltungen aufgegriffen, u.a. von:
17. Kongress Armut & Gesundheit und
Kooperation für nachhaltige Präventionsforschung