21.04.2020
Wohnungslosigkeit und Gesundheit
Sabine Bösing, Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V.
Schlagwörter:Gesundheitsförderung, Niedrigschwellige Arbeitsweise, Wohnungslose
Wohnungslos sind nach der Definition der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V. (BAG W) alle Menschen, die über keinen mietvertraglich abgesicherten Wohnraum verfügen. Obdachlos sind diejenigen unter ihnen, die ohne jede Unterkunft auf der Straße oder im öffentlichen Raum leben bzw. in Notunterkünften übernachten. Die BAG W arbeitet mit dem Begriff Menschen in Wohnungsnotfallsituationen, der nicht nur aktuell von Wohnungslosigkeit betroffene Menschen, sondern darüber hinaus auch unmittelbar von Wohnungslosigkeit bedrohte Menschen und Menschen in unzumutbaren Wohnverhältnissen mit einschließt.
Artikel 25 Absatz 15 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte macht den Anspruch auf ein soziales Existenzminium und ein Leben in Sicherheit geltend. Ein angemessener Lebensstandard wird dort an Bereichen wie Gesundheit und Wohlbefinden einschließlich Nahrung, Kleidung, menschenwürdiger Wohnung, medizinischer Betreuung und der notwendigen Leistungen der sozialen Fürsorge festgemacht. Im UN-Sozialpakt sowie in vielen anderen rechtlich bindenden internationalen Verträgen ist das Recht auf soziale Sicherheit festgehalten. Durch den Europarat und die Europäische Menschenrechtskonvention sowie die Europäische Sozialcharta werden Schlüsselmomente von Armut wie Zugang zu angemessenem und bezahlbarem Wohnraum sowie Abbau von Obdachlosigkeit, erreichbare und funktionierende Gesundheitseinrichtungen für die gesamte Bevölkerung, einschließlich der Vorbeugung gegen Krankheiten, das Recht auf soziale Sicherheit, Sozialleistungen, das Recht auf Schutz vor Armut und sozialer Ausgrenzung angesprochen.
In Deutschland steigt die Armutsrisikoquote an. Bisher gibt es keine bundeseinheitliche, geschlechterdifferenzierte Wohnungslosenstatistik, aber Schätzungen der BAG W gingen 2018 von insgesamt 678.000 wohnungslosen Menschen aus. Die Zahl der wohnungslosen anerkannten Geflüchteten schätzt die BAG W auf ca. 441.000 Menschen. Die wohnungslosen Menschen ohne Einbezug wohnungsloser anerkannter Geflüchteter lag bei gut 237.000. 41.000 darunter waren obdachlos. Der Anteil der alleinstehenden wohnungslosen Menschen wird auf 70% geschätzt, der der Kinder und minderjährigen Jugendlichen auf 8% und der der erwachsenen Frauen auf 27%. Unter den Menschen, die ohne jede Unterkunft auf der Straße leben sind insbesondere in den Metropolen bis zu ca. 50 % EU-Bürgerinnen und Bürger. Sie machen einen Anteil von ca. 17% aller wohnungslosen Menschen in Deutschland aus.
Wohnungs- und obdachlose Menschen sind eine heterogene Gruppe. Viele können auf Grund von strukturellen Barrieren der Gesundheitsgesetzgebung und des medizinischen Regelsystems sowie lebenslagenbedingten Zugangsbarrieren die Angebote der medizinischen Regelversorgung nicht in Anspruch nehmen. Sie sind deswegen auf die niedrigschwelligen medizinischen Versorgungsangebote angewiesen, die durch verschiedene freie Träger und Kirchen gestellt, oft nicht gesichert finanziert und auf Ehrenamt gestützt sind.
Nach dem statistischen Bundesamt hatten 2015 80.000 Menschen in Deutschland keinen Krankenversicherungsschutz und dadurch keinen oder einen unzureichenden Zugang zu medizinischer Hilfe. Nichtregierungsorganisationen wie Ärzte der Welt und zivilgesellschaftliche Einrichtungen der freien medizinischen Versorgung gehen von weit mehr nichtversicherten Menschen aus. Menschen aus den neuen EU-Mitgliedsländern, die seit 2017 - wenn sie arbeitssuchend sind und seit weniger als fünf Jahren in Deutschland leben - von Leistungen nach SGB II und XII und damit auch von medizinischer Versorgung ausgeschlossen sind und wohnungslose Menschen gehören zu dieser Gruppe.
Auf dem Kongress Armut und Gesundheit wird in jedem Jahr das Thema Wohnungslosigkeit thematisiert. Dass 2019 fünf eigene Veranstaltungen einen Fokus auf die Versorgung von wohnungslosen Menschen legten, zeigt, wie drängend sich dieses Problem gestaltet.
Zur Sicherstellung einer angemessenen und kontinuierlichen medizinischen Versorgung von Menschen in einer Wohnungsnotfallsituation fordert die BAG W:
- die Behandlung von Menschen ohne Hinterfragung ihres rechtlichen Status‘
- eine Umsteuerung der Gesundheitspolitik, die die besonderen Bedarfslagen von Menschen in Wohnungsnot und Armut berücksichtigt
- eine nachhaltige Finanzierung der medizinischen Versorgungsprojekte durch einen gemeinsamen Fond der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und der öffentlichen Hand
- einen Härtefallfond der KBV, GKV und öffentlichen Hand für die Notfallversorgung nicht-versicherter Personen
- eine flächendeckende Absicherung der medizinisch-pflegerischen Behandlung wohnungsloser Menschen
- die medizinisch-pflegerische Behandlung wohnungsloser Menschen nach anerkannten Methoden, Leitlinien und Hygienestandards
- dass besonderen Bedürfnissen von Personen in Mehrfach-Problemlagen Rechnung getragen werden muss
- sowie Clearingstellen, Sprachmittlung und Schaffung neuer Angebote für nicht krankenversicherte schwangere Frauen und für Kinder
Darüber hinaus bestehen Forderungen der AG Medizinische Versorgung des bundesweiten Zusammenschlusses wohnungsloser und ehemals wohnungsloser Menschen, der Selbstvertretung wohnungsloser Menschen, die u. a. folgendes beinhalten:
- keine Behandlungsunterschiede zwischen wohnungslosen und nicht wohnungslosen Menschen
- mehr mobile Angebote
- eine gesicherte Finanzierung der niedrigschwelligen medizinischen Angebote
- die Möglichkeit einer vollständigen Genesung im Krankenhaus
- die Behandlung chronischer und psychischer Erkrankungen
Auch im Handlungsfeld rund um die Wohnungslosigkeit von Menschen zeigt sich ein demografischer Wandel. Die Population der wohnungslosen Menschen verändert sich. Sie wird älter, es gibt mehr Frauen und der Anteil der Menschen, deren aufenthaltsrechtliche Situation einen schlechten oder keinen Zugang zur medizinischen Regelversorgung bedingt, nimmt zu. Daraus resultieren spezifische gesundheitliche Bedarfsbereiche, wie zum Beispiel Zahngesundheit, psychische Gesundheit, Kindergesundheit, Frauengesundheit, Pflege und Hospiz.
Von dem primären Ziel, allen wohnungslosen Menschen einen barrierefreien Zugang zur Regelversorgung zu ermöglichen, ist man noch weit entfernt. Ein Großteil der Versorgung erfolgt weiterhin durch die niedrigschwelligen und akzeptierenden Angebote. Die Wichtigkeit dieser Angebote als Teil der Versorgungslandschaft und als Brücke zur Regelversorgung rücken immer mehr in den Fokus. Stationäre Angebote und Krankenwohnungen wurden als good practice Beispiele (Ansätze mit Vorzeigecharakter) genannt, da sie die Möglichkeit schaffen, zunächst einmal die Grundbedürfnisse (Hygiene, Ernährung, Unterkunft) zu erfüllen, um darauf aufbauend auch die gesundheitliche Situation zu verbessern.
Auch in diesem Jahr 2020 sollte das Thema auf dem Kongress Armut und Gesundheit in verschiedenen Programmpunkten Einzug finden. Leider musste der Kongress aufgrund der aktuellen Ausbreitung von COVID-19 zunächst abgesagt werden. Die aktuelle Situation im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie zeigt insbesondere auch für wohnungslose Menschen dringenden Handlungsbedarf, da sie häufiger unter bereits bestehenden Mehrfacherkrankungen leiden und keine Chance haben, soziale Kontakte zu reduzieren und Schutz durch den Rückzug in die eigene Wohnung zu finden. Daher fordert die BAG W aktuell, Zwangsräumungen von Wohnraum auszusetzen, Kapazitäten in Notunterkünften auszuweiten, Ersatzwohnraum zu beschaffen sowie Schutzmaßnahmen für Wohnungslose zu treffen.
Weitere Informationen zu der aktuellen Situation von wohnungslosen Menschen finden Sie auf der Website der BAG W.