23.08.2012
Zeit und Gesundheit als Faktoren gelingenden Familienlebens
Ein Projekt des Bundesforums Familie
Katherine Bird, Bundesforum Familie
Schlagwörter:Bildung, Empowerment, Familie, Netzwerk, Ressourcen, Salutogenese, Schule, Setting, Sozialraum, Teilhabe
Das Bundesforum Familie (BFF) setzt sich für die Berücksichtigung familienrelevanter Belange in allen gesellschaftlichen und politischen Gestaltungsbereichen ein. Zu diesem Zweck sind im Bundesforum Familie Organisationen mit unterschiedlichsten Schwerpunkten versammelt, die auf Projektbasis jeweils zu einem inhaltlichen Schwerpunkt zusammenarbeiten. Von 2010 bis 2011 war der Schwerpunkt „Zeit und Gesundheit als Faktoren gelingenden Familienlebens“.
Erster Ansatzpunkt für das Projekt war die WHO-Gesundheitsdefinition und die darauf aufbauende Ottawa-Charta, die Gesundheitsförderung als einen Prozess beschreibt, in dem alle Menschen befähigt werden, ihr körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden zu stärken.
Zweiter Ansatzpunkt war der 13. Kinder- und Jugendbericht, der zum ersten Mal die Themen Gesundheitsförderung und gesundheitsbezogene Prävention beinhaltete. Der Bericht unterstrich mit seiner salutogenetischen Perspektive die unterschiedlichen Verwirklichungschancen von Kindern und Jugendlichen, eigene Ressourcen zu nutzen und aufzubauen.
Bei der Bearbeitung des Themas orientierten sich die Mitglieder des BFF an den Prinzipien der Selbstbestimmung, Eigenverantwortung, Befähigung und Gleichberechtigung. Somit leistet das Projekt einen Beitrag zur Stärkung der Kompetenz, ein gesundheitsförderndes Leben in Familien zu führen und damit die alltägliche Lebensbewältigungskompetenz von Familien verbessert - auch von denen in prekären Lebenslagen.
Während des Projektes sind auch die strukturellen Hindernisse zur Verwirklichung eines Höchstmaßes an Gesundheit in und mit Familien sichtbar geworden. Das Nebeneinander der verschiedenen Unterstützungs- und Leistungssysteme verhindert die flächendeckende Verbreitung von praxiserprobten Maßnahmen und muss dringend überwunden werden. Daher wirbt das BFF für eine neue zeitgerechte Balance zwischen privater, familialer sowie öffentlicher Verantwortung und stellt mit seinen Projektergebnissen Grundelemente eines zukünftigen Gesundheitsförderkonzeptes vor.
Die Grundelemente eines zukünftigen Gesundheitsförderkonzeptes
Die Gewährleistung von Gesundheitschancen für alle Kinder und Jugendliche bedeutet, dass Gesundheit nur im Kontext von Bildung, Teilhabe, Befähigungskompetenz, Integration und Inklusion sowie sozialökonomischer Lage betrachtet werden kann. Diese Zusammenhänge zwingen zu einem grundlegenden Paradigmenwechsel in der Wahrnehmung öffentlicher Verantwortung für gesundes Leben und vor allem für das gesunde Aufwachsen eines jeden jungen Menschen in der Familie.
Die Fokussierung auf das „Ermöglichen“ von Gesundheit und das gesunde Aufwachsen junger Menschen lenkt den Blick auf die Familie. In den öffentlichen Diskursen wird die Familie häufig idealisiert und als „natürlicher“ Garant für das gesunde Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen dargestellt. Vermehrt gerät sie aber auch unter Generalverdacht, unzulänglich Sorge für gesunde Lebensführung zu tragen. Es ist notwendig, sie vor allem als zentralen Ort für die Verwirklichung und aktive Mitgestaltung gesundheitsförderlicher Lebensbedingungen und Kompetenzen in den Blick zu nehmen.
Der zentrale Ort für die Förderung familiengerechter und gesundheitsförderlicher Lebensbedingungen ist das unmittelbare Lebensumfeld von Kindern und Familien: wo sie wohnen, arbeiten, lernen, spielen, zur Schule gehen, Gemeinschaft leben, Freizeit gestalten, Kultur erfahren usw. Die Gestaltung „gesundheitsförderlicher Sozialräume“ ist die systematische Perspektive für gesundes Aufwachsen und für Gesundheit in und mit Familien. Dahinter steht eine komplexe Verantwortung, die sich nicht in kommunaler Politik erschöpft. Vielmehr müssen auch bundes- und landespolitische Steuerungen und Investitionen zum Abbau struktureller Standortmängel und zugleich zur Qualifizierung und Modernisierung regionaler und lokaler Lebenswelten erfolgen.
Die nachfolgenden Zentralen Aussagen des Projektes stellen Grundelemente eines zukünftigen Gesundheitsförderkonzeptes dar:
- Alle Familien brauchen Förderung. Familie zu leben ist eine komplexe Leistung, die jede und jeder für sich lernen muss. Alle Familien brauchen manchmal Rat oder Unterstützung. Es soll ein Klima geschaffen werden, indem es selbstverständlich ist, Förderung zu suchen und zu bekommen.
- Öffentliche Verantwortung für Förderung verstetigen, verbindlicher machen und vernetzter wahrnehmen. Damit Familien die Förderung bekommen, die sie brauchen, bedarf es einem umfassenden Fördersystem. Nicht nur ist die Gesundheitsförderung in der Kinder- und Jugendhilfe sondern auch als gleichwertige Säule im Gesundheitsleistungssystem zu stärken. Vernetzung und Kooperationen sind ressort-, institutionen- und ebenenübergreifend anzulegen.
- Perspektivenwechsel heißt Regelstrukturen verändern. Vielfältige Formen und Zugänge der Gesundheitsförderung sind als Bestandteil ganzheitlicher, auf die Lebenswelt bezogener Konzepte anzustreben. Veränderungen der Regelstrukturen sollen langfristige Kooperationen und Vernetzungen nachhaltig unterstützen und kurzfristige „Projektitis“ überwinden.
- Gesundheitsförderung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verlangt ein umfassendes Gesundheitsförderkonzept. Der Schwerpunkt der Gesundheitsförderung ist zu verlagern von der individualisierenden Verhaltensprävention hin zu strukturellen Veränderungen, die zur Schaffung positiver materieller, sozialer sowie sozialkultureller Lebensbedingungen beitragen. Der Kern eines entsprechenden Förderkonzepts wäre in einem „Gesundheitsfördergesetz“ zu realisieren.
- Frühzeitiger und nachhaltiger fördern statt pathologisieren und medikalisieren. Die medikamentöse Behandlung von Auffälligkeiten ist in vielen Fällen eine unzureichende Antwort auf die Problem, die Kinder und ihre Familie heute zu bewältigen haben. Nötig ist eine Gesundheitsförderung, die lebensverlaufsorientiert altersspezifische Entwicklungsressourcen aufbaut.
- Schule als Ort der Bildung und Gesundheit für alle Kinder gestalten. Gesundheitliche Probleme bei Kindern nehmen ab dem Schuleintritt stark zu. Zu den strukturellen Ursachen gehört ein Schulsystem, das dominant auf Auslese und nicht konsequent auf Förderung aller Kinder ausgerichtet ist. Wichtig sind stattdessen Wertschätzung vorhandener Stärken und die Förderung wirksamer Bewältigungsstrategien der betroffenen Kinder, Jugendlichen und Familien.
- Sozialraum zum zentralen Ort nachhaltiger Gesundheitsförderung für alle und mit allen machen. Zu fragen ist: wie kann das Umfeld von Kindern und Familien gesundheitsförderlich, anregungsreich und partizipativ gestaltet werden? Siedlungs-, wohnungsbau- und infrastrukturpolitische Konzepte können der zunehmenden sozialen Segregation in den Kommunen entgegenwirken und Solidarität und aktive Mitwirkung der Familien und Kinder an den Lebensweltgestaltungen stärken.
- Zeit als wesentlichen Faktor wirksamer Gesundheitsförderung beachten. Zeitmangel, Zeitdisparitäten und Zeitkonflikte sowie direkter Zeitdruck auf Kinder beeinträchtigen die Chancen auf gesundes Leben und Aufwachsen. Maßnahmen sind sowohl auf den relevanten strukturellen Ebenen der Arbeits- und Öffnungszeiten anzusetzen wie auch auf der Ebene der Förderung individueller Kompetenzen im Umgang mit Zeit.
- Überwindung von Armut und prekären Lebenslagen ist Grundvoraussetzung für nachhaltige Gesundheitsförderung. Eine „Kindergrundsicherung“, bestehend aus einem Mix monetärer und realer Transfers wie dem kostenfreien Zugang zu den elementaren Bildungs-, Betreuungs- und Förderleistungen sowie zu Kultur- und Freizeitangeboten, ist in diesem Zusammenhang von grundlegender Bedeutung.
- Fachliche und wissenschaftliche Fundierungen ausbauen und stärker vernetzen. Mit Blick auf den Querschnittscharakter der Gesundheitsförderung müssen die einschlägigen Fachbereiche stärker aufeinander bezogen und miteinander vernetzt werden. Effektive, nachhaltig wirkende Gesundheitsförderkonzepte lassen sich nur auf der Grundlage kontinuierlicher Forschung begründen. Daher ist u.a. der Ausbau der KiGGS-Studie des Robert Koch-Instituts als Längsschnitt- und zugleich als Langzeitstudie erforderlich.
Die Projektergebnisse wurden von drei Arbeitsgruppen und einem wissenschaftlichen Beirat erarbeitet. Zwei Veröffentlichungen sind entstanden: die Zusammenfassung „Gesundheit für alle - Zentrale Aussagen des Projektes“ und die Broschüre „Gesundheit für alle - in und mit Familien. Förderung, Hilfe, Schutz.“ (Beide Broschüren können Sie hier downloaden.)