04.11.2013
Zur Bedeutung und positiven Gestaltung von biografischen Übergängen
Interview mit Gerda Holz
Gerda Holz, ehem. Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e.V.
Schlagwörter:Interview, Partnerprozess
Gerda Holz ist am Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik, Frankfurt a.M. (ISS) tätig und dort Leiterin des Geschäftsfeld Soziale Inklusion. Sie leitet seit 1997 die AWO-ISS-Langzeitstudie „Lebenslagen und Zukunftschancen von (armen) Kindern und Jugendlichen in Deutschland“ und begleitet seit 2002 den Aufbau des kommunalen Präventionsansatzes „Mo.Ki - Monheim für Kinder“ wissenschaftlich.
Was verstehen Sie unter Übergängen?
Für mich finden Übergänge auf zwei Ebenen statt: auf der Ebene des Kindes und auf der Ebene der Strukturen. Auf der Erstgenannten steht die kindliche Entwicklung im Fokus. Hier sind Übergänge Entwicklungspassagen, verbunden mit hohen Lern- und Anpassungsanforderungen an das Kind. Im Kern geht es darum, dass das Kind in dem jeweils neuen Umfeld (z.B. Kita, Schule) stabile und tragfähige Bindungen aufbaut. Sie bilden die Basis dafür, dass die weiteren Entwicklungs- und Lernprozesse vollzogen werden können. Auf der Ebene der Strukturen stellen Übergänge Verbindungspunkte sowohl zwischen Einrichtungen (z.B. Kita - Schule) als auch zwischen Systemen (z.B. die Systeme frühkindliche Bildung, schulische Bildung) dar. Institutionen wie Systeme folgen ihren eigenen Logiken, Gesetzmäßigkeiten, Verfahrensweisen, die nicht immer passgenau und einfach kompatibel sind. Die Herausforderung besteht also darin, sie zusammenzuführen und zu vernetzen. Dies ist eine Strukturleistung, die nicht durch die Kinder und ihre Eltern, sondern durch die beteiligten Akteure - Fach- und Leitungskräfte - erbracht werden muss.
Warum ist eine positive Bewältigung und Gestaltung dieser Übergänge wichtig?
Kindheit, Jugend und das Leben überhaupt bedeuten kontinuierliche Entwicklungs- und Lernprozesse, die beinhalten, dass in jeder Lebensphase auch spezifische Lernerfahrungen gemacht werden. Die positive Gestaltung von Übergängen ist für Kinder insofern wichtig, als dass sie erfolgreich ihren Lebensweg beschreiten und die jeweilige altersspezifische Herausforderung gut bewältigen. Es muss ermöglicht werden, dass Kinder Bekanntes loslassen und gleichzeitig zuversichtlich in neue Situationen hineingehen. Dazu ist es erforderlich, dass sie teilhaben und mitgestalten können. Zudem müssen auch Eltern mitgenommen werden und Fachkräfte vermitteln, dass Übergänge etwas Normales und Schönes sind, was bewältigbar ist und bewältigt wird.
Welche Chancen und Risiken sind mit einem gesunden Aufwachsen verbunden?
Eine Chance liegt darin, dass durch die erfolgreiche Bewältigung eines Übergangs die Selbstwirksamkeit und damit die Kompetenzen des Kindes gestärkt werden. Eine weitere Chance - v.a. für Kinder aus belasteten, armutsbetroffenen Familien - ist die Erfahrung, dass die Einrichtung ein Schutz- und Erprobungsraum ist, in dem der Junge oder das Mädchen Entlastung in einer ansonsten belastetet Lebenswelt erhält. Das Kind erfährt weiterhin, sich in seinem Potenzial und in seiner Persönlichkeit zu entfalten, indem es neue Situationen kennenlernt und erlebt, wie ganz anders mit ihm/ ihr umgegangen wird. Eine dritte Chance, die sich aus der Bewältigung von Übergängen ergibt, ist die Einbindung in neue soziale Bezüge und das Hineinwachsen in Gemeinschaften.
Einrichtungen wie Kitas, Schulen etc. beeinflussen in hohem Maße, ob ein Übergang gelingt und die damit verbundenen Chancen genutzt werden können oder ob sich bestehende Benachteiligungen zu immer größeren Risiken auswachsen.
Wenn die Möglichkeiten von Eltern eingeschränkter sind, wenn die Eltern aufgrund der familiären Lage be- oder gar überlastet sind, dann wirkt sich das auf die Bindung zwischen Kind und Eltern mit Folgen auf die kindliche Persönlichkeitsentwicklung, die soziale Einbindung und das Verhalten aus. Werden solche Nachteile nicht aufgehoben, dann potenzieren sie sich über das Alleinlassen von Eltern und Kindern während der Übergänge, dann werden Chancen noch kleiner und Risiken noch größer. Wenn Einrichtungen dagegen Bedürfnisse und Bedarfe der Kinder wahrnehmen und sensibel darauf eingehen, öffnen sich Türen und ermöglichen damit wiederum Chancen.
Sie selbst haben zahlreiche Forschungen zum Einfluss von Kinderarmut auf ein gesundes Aufwachsen durchgeführt. Inwiefern beeinflusst Armut - verstanden als nicht ausschließlich finanzielle, sondern auch soziale, kulturelle, gesundheitliche Einschränkungen - die Bewältigung von biographischen Übergängen?
Die von Armut Betroffenen erleben sehr häufig, dass sie nicht mithalten können. Mit dem Eintritt des Kindes in eine außerfamiliale Einrichtung entsteht ein gewisser Erwartungs- und Leistungsdruck für die Eltern. Das beginnt bei Frühstücksbrot und Turnbeutel und geht beim Mitbringen von Malsachen oder der Finanzierung von Ausflügen weiter. Nichtsdestotrotz strengen sich die Eltern und genauso die Kinder an, um als Menschen wertgeschätzt zu werden, nach außen ein positives Bild aufrecht zu erhalten, beteiligt zu sein usw., und doch erleben sie rasch Abwertungen durch andere. Ein Beispiel: Armutsbetroffene Familien werden häufig als bildungsfern eingestuft und etikettiert. Damit erleben sie eine Umkehrung ihrer Realität. Nicht die Ursache „Armut“ sondern die Folge “Risiko geringer Bildung“ werden wahrgenommen und es wird sozial entsprechend darauf reagiert. Ihre Lebenslage „Armut“ wird quasi tabuisiert. Um damit umzugehen, reagieren Betroffene mit Rückzug oder fangen an übermäßige Signale zu geben, dass sie doch mithalten können. Was dann auch wieder nicht richtig ist und schon stecken sie in dem „Ausgrenzungskreislauf“.
Kinder aus armutsbetroffenen Familien müssen sich stärker anstrengen, wodurch die Belastung während eines Überganges wächst und somit das Risiko zu scheitern steigt. Dementsprechend trägt die Haltung von Fachkräften erheblich dazu bei, wie insbesondere sozial benachteiligte Kinder Übergänge bewältigen können. Die Haltung, die einem Kind entgegengebracht wird, vermittelt, ob es dazugehört oder nicht und auch, ob ein Kind die Chance erhält teilzuhaben oder nicht.
Welche Herausforderungen sind mit einer positiven Gestaltung von Übergängen verbunden?
Die erste Herausforderung besteht darin, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass die Fachkräfte sich als Teil einer Struktur sehen, die sie durch ihre tägliche Arbeit mit formen können. Dies stellt die Basis für eine positive Gestaltung von Übergängen dar. Entscheidend ist zudem, Fachkräfte dafür zu sensibilisieren, den gesamten Lebensweg eines Kindes im Blick zu haben und darin gegebene Passagen vorzubereiten, zu begleiten und nachzubereiten. Bei der Gestaltung von Übergängen ist es zudem wichtig zu beachten, dass Eltern und Kind immer gemeinsam den Weg gehen. In Abhängigkeit der Möglichkeiten der Eltern ist die Einrichtung ganz unterschiedlich gefordert: mal als mit Begleitender, mal als Ersatzbegleiter.
Um Übergänge positiv für das Kind zu gestalten, müssen zunächst die Strukturen gestaltet und damit bei den Fachkräften angefangen werden. Bei ihnen - d.h. dem Erzieher, der Lehrerin - liegt die Verantwortung für die Vor- und Nachbereitung. Diese Sichtweise stellt eine Umkehrung dessen dar, was ich immer wieder in fachlichen Diskussionen zu hören bekomme. Hier steht häufig das Verhalten der Eltern im Mittelpunkt. Zunächst aber haben die Fach-/Leitungskraft zu beantworten, was machen sie in ihrer Kita, in ihrer Schule. Das ist für mich der entscheidende Punkt. Erst geht es um die Frage, wie gestalten wir, die Profis, die Übergangssituation zwischen unseren Einrichtungen, dann geht es um die Frage, wie schaffen wir das zusammen mit den Eltern und schließlich, wie sieht der Übergang aus der Kindperspektive aus?
Welchen Beitrag leisten aus Ihrer Sicht Akteure der Gesundheitsförderung?
Ich wünsche mir, dass Akteure im Bereich der Gesundheitsförderung den Settingansatz verstärkt in die Bildungseinrichtungen tragen. Dieser Ansatz stellt eine Erweiterung der pädagogischen Perspektive dar. Denn bei Übergängen müssen nicht nur Lernprozesse bei Kind und Eltern gestaltet sondern auch das soziale Umfeld einer Familie berücksichtigt werden. Dadurch können Übergänge von Anfang an bedürfnisorientiert und zielgruppenbezogen gestaltet werden. Wenn es gelingt, mit Fachkräften aus dem Bereich der Gesundheitsförderung gemeinsam die Konzeption und damit die Aktivitäten in einer Einrichtung zu verändern, dann ist sehr viel geleistet worden. Vor diesem Hintergrund sollten Akteure aus dem Bereich der Gesundheitsförderung noch sehr viel stärker und frühzeitiger Kooperationen mit Kitas, Schulen und Betrieben schließen sowie Konzepte gemeinsam entwickeln. Das setzt voraus, dass die Gesundheitsförderung auf die genannten Einrichtungen aktiv zugeht.
Was hat sich mit Blick auf die Präventionskette in Monheim am Rhein für eine positive Gestaltung von Übergängen bewährt?
Es ist gelungen, dass sich die Fachkräfte in Monheim am Rhein durch die Mo.Ki-Kette als Teil eines Gesamten verstehen. Die Identität „Wir sind Mo.Ki!" ist etabliert. Alle haben eine gemeinsame Basis, auf der entsprechend der jeweiligen Aufgabengebiete agiert wird. Daraus entsteht ein gemeinsamer Blick, der für die positive Gestaltung von Übergängen - auf struktureller wie individueller Ebene ganz entscheidend ist. Das heißt, die Einrichtungen setzen sich rechtzeitig mit den Übergängen auseinander und es werden beispielsweise die Prozesse sowie die Aufgaben der Fachkräfte zur positiven Gestaltung des Übergangs gemeinsam festgelegt. Den Fachkräften der jeweils beteiligten Einrichtungen wird so Orientierung vermittelt und es herrscht Klarheit über die Verantwortlichkeiten. Damit wird die Übergangsgestaltung systematisch und weniger willkürlich.
Die stärkere Beschäftigung mit den Übergängen hat gezeigt, dass die Vorbereitung der Kinder darauf in den Kitas und Schulen etabliert ist. Der regelmäßige Austausch von Fachkräften ist in Monheim am Rhein selbstverständlich geworden. Arbeitsstrukturen und -prozesse wurden geschaffen, die definieren, wer mit wem zusammenarbeitet und wer dabei welche Aufgaben übernimmt. Die Voraussetzung dafür sind eine gemeinsame Zielstellung, ein gemeinsames Verständnis und eine gemeinsame Haltung. Ohne eine solche Basis ist es nicht möglich, unterschiedliche Institutionen und Systeme zusammenzubekommen.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
Die Fragen stellte Katja Becker