28.05.2012
Zur gesundheitlichen Situation von Frauen im Strafvollzug
Mehrteilige Reihe: Gesundheitsförderung in Justizvollzugsanstalten, Teil 4
Heino Stöver, Fachhochschule Frankfurt, Institut für Suchtforschung
Schlagwörter:Drogen, Frauengesundheit, Gewalt, Inhaftierung, Schwangerschaft, Setting
Die Gesundheitsrisiken in Justizvollzugsanstalten sind andere als außerhalb der Einrichtungen. Überproportional viele Infektionserkrankungen und ein hohes Suchtpotenzial lassen sich bei den Insassen finden. Dass die Umsetzung einer ganzheitlichen Gesundheitsförderung für Inhaftierte gelingen kann, zeigt das kürzlich als Good Practice-Beispiel ausgezeichnete Projekt SPRINT. Gesundheitsfördernde Justizvollzugsanstalten können einen wesentlichen Beitrag zur Verminderung sozial bedingter Ungleichheit leisten.
Welche Probleme sich in Justizvollzugsanstalten zeigen und was im Hinblick der Etablierung gesundheitsfördernder Strukturen in Justizvollzugsanstalten getan werden muss, zeigt die fünfteilige Artikelserie von Prof. Dr. Heino Stöver (Fachhochschule Frankfurt am Main) zum Thema „Gesundheitsförderung in Haft“. Die einzelnen Teile der Serie erscheinen im zweiwöchentlichen Rhythmus.
Zur gesundheitlichen Situation von Frauen im Strafvollzug
Zur gesundheitlichen Situation von Frauen im Strafvollzug liegen (europaweit) nur lückenhafte Erkenntnisse vor (Keppler 2005). Als Erklärung des erkannten Defizits wird der geringe Frauenanteil von etwa 5,4% (30.11.2010) unter der Gefangenenpopulation angeführt und als mangelnde Relevanz für den Gesamtstrafvollzug gedeutet.
Eine Ausnahme bildet die Beachtung des Zusammenhanges Frauen und Mutterschaft als frauenspezifische Realität im Strafvollzug, die umfassender aufgearbeitet und in verschiedenen Praxismodellen umgesetzt wurde. Über die unterstützenswerten subjektiven Interessen und Erfordernisse bei Schwangerschaft und Mutterschaft unter Haftbedingungen hinausblickend, wirkt eine reduzierte Wahrnehmung der gesundheitlichen Situation von inhaftierten Frauen allein unter dem Blickwinkel der biologischen und sozialen Funktion von Mutterschaft affirmativ zu herrschenden gesellschaftlichen Weiblichkeitsvorstellungen und damit einseitig und entwicklungsbegrenzend.
Die empirische und vollzugspraktische Beachtung vielfältiger Zusammenhänge von Lebens- und Haftbedingungen weiblicher Gefangener hat gegenwärtig nur ausschnitthaft stattgefunden. Da drogenabhängige Frauen im Vollzug stark überrepräsentiert sind (im mehreren Frauenhaftanstalten z. T. deutlich über 50%; siehe Zurhold/Haasen/Stöver 2005) weisen viele Frauen gesundheitliche Probleme durch Armut, Drogenkonsum, häusliche Gewalt, sexuellen Missbrauch, Schwangerschaft im Jugendalter, Mangelernährung und unzureichende Gesundheitsversorgung auf. Entsprechend sind drogenbedingte Erkrankungen bzw. solche aufgrund einer langjährigen Verelendung, Mehrfachabhängigkeiten, Komorbiditäten und Prostitutionstätigkeit im Vollzug verbreitet: Abszesse, venöse Erkrankungen, Infektionskrankheiten (HIV/AIDS, Hepatitiden, Geschlechtskrankheiten) gynäkologische Erkrankungen, hohe psychische Belastungen, Traumata, Trennung von eigenen Kindern (Palmer 2007).
Die UNODC/WHO (2009, S. 24ff) weisen darauf hin, dass drogenabhängige Straftäterinnen gegenüber männlichen Straftätern eine erhöhte Prävalenz an Tuberkulose, Hepatitis, Toxämie, Anämie, Bluthochdruck, Diabetes und Adipositas aufweisen und psychische Störungen unter weiblichen Häftlingen unverhältnismäßig häufig vertreten sind: ca. 80% leiden an einer erkennbaren psychischen Störung. Zwei Drittel der weiblichen Häftlinge leiden an posttraumatischen Belastungsstörungen, ebenso zwei Drittel an durch Substanzmissbrauch bedingten Störungen. Komorbiditäten treten mit großer Häufigkeit auf.
Justizvollzugsanstalten für Frauen benötigen für die Gesundheitsversorgung ein geschlechtsspezifisches Rahmenkonzept, bei dem Aspekte wie Reproduktionsgesundheit, psychische Erkrankungen, Suchtprobleme sowie körperliche, sexuelle Missbrauchserfahrungen und Morbiditäten in besonderer Weise berücksichtigt werden. UNODC/WHO (2009, S. 25) fordern, dass alle Beschäftigten im Frauenvollzug eine geschlechtsspezifisch sensible Ausbildung und gezielte Schulungen in Bezug auf die besonderen gesundheitlichen Bedürfnisse von Frauen in Haft zu durchlaufen haben. Gegenwärtig sind frauenspezifische gesundheitliche Hilfe- und Unterstützungsleistungen in medizinischen und psychosozialen Diensten ‚von Frauen für Frauen‘ im Vollzug sehr selten.
Heterosexualität ist auch im Vollzug die gesetzte Norm: Sexualpräventive Maßnahmen beschränken sich häufig auf eine instrumentelle Praxis der Vergabe von Kondomen mit entsprechenden Verhaltensappellen. Lesbische Sexualität findet in diesem Präventionsverständnis keine Beachtung. Werden gelebte sexuelle Orientierungen in ihrer Vielfalt nicht durch entsprechende Anerkennung in präventiven Angeboten ernst genommen, wirken sie auf die Zielgruppe unglaubwürdig und realitätsfremd und verlieren an Effektivität.
Das Erfahrungsspektrum Sexualität bei inhaftierten Frauen durchzieht häufig, gerade bei Drogenkonsumentinnen und Abschiebehäftlingen, noch andere biographische Erlebnishintergründe: Prostitutionserfahrungen, sexuelle Gewalt und Missbrauchserlebnisse. Inwieweit sexuelle Nötigungen im Strafvollzug Realität sind, lässt sich nur aus einzelnen - anekdotenhaften - Berichten entnehmen. Wie auch immer die Verbreitung dieser Form von Gewalt ausübender Sexualität ist, präventive Schritte, so noch gehbar in einer solchen Situation, erfordern eine schnelle und möglichst anonyme Zugänglichkeit zu Kondomen (vgl. Laubenthal 2005, 206).
Der Zusammenhang von Drogenabhängigkeit und Sexualverhalten bei Gefangenen ist nur wenig erforscht. Eine Ausnahme bildet die Untersuchung von Antonietti/Romano (1997) mit 90 weiblichen Gefangenen. Dabei berichteten 40% der Gefangenen über ihre Zustimmung zu Sexualkontakten im Austausch für Waren oder Geld. Die Frauen, die über diesen Austausch berichteten, bezeichneten sich selbst als Drogenkonsumentinnen. 75% der Befragten nahmen an, dass dies gewöhnliche Ereignisse unter drogenabhängigen Gefangenen seien, um ihren Drogenkonsum zu finanzieren. Über Erfahrungen sexuellen Missbrauchs berichten 43,3% der Frauen, die angaben jemals Sexualkontakte ohne Zustimmung gehabt zu haben. Diese Angaben bezogen sich nicht nur auf drogenkonsumierende Gefangene.
Literatur:
- Keppler, K. (2005): Gefängnismedizin im Frauenvollzug. In: Hillenkamp, Th.; Tag, B. (Hrsg.): Intramurale Medizin - Gesundheitsfürsorge zwischen Heilauftrag und Strafvollzug. Heidelberg: Springer.
- Zurhold, H.; Haasen, Chr.; Stöver, H. (2005): Female drug users in European prisons. A European study of prison policies, prison drug services and the women's perspectives. Oldenburg: BIS-Verlag.
- Palmer, J. (2007): Special health requirements for female prisoners. In: Møller, L.; Stöver, H, Jürgens, R., Gatherer, A.; Nikogosian, H. (ed.; 2007): Health in Prison Settings. A WHO guide to the essentials in prison health. Copenhagen, S. 157-170.
- UNODC, WHO Regionalbüro Europa (2009): Gesundheit von Frauen im Strafvollzug. Beseitigung von Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern im Strafvollzug. Wien/Kopenhagen.
- Laubenthal, K. (2005): Sucht- und Infektionsgefahren im Strafvollzug. In: Hillenkamp, Th.; Tag, B. (Hrsg.): Intramurale Medizin - Gesundheitsfürsorge zwischen Heilauftrag und Strafvollzug. Heidelberg: Springer.